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George Friedrich
Meiers
ordentlichen Lehrers der Weltweisheit und der berlinischen
Akademie
der Wissenschaften Mitgliedes
Auszug
aus der
Vernunftlehre.
Mit Königl. Poln. und Kurfürstl. Sächs.
allergnädigsten Freiheiten.
HALLE,
bei Johann Justinus
Gebauer. 1752.
Vorrede.
Da diese gegenwärtige Schrift ein blosser Auszug aus meiner grössern
Vernunftlehre ist, welche zu gleicher Zeit mit dieser ans Licht tritt;
so habe
ich nichts weiter zu erinnern, als dass ich diesen Auszug zum Gebrauch
in
meinen Lesestunden verfertiget habe, und dass ich ein paar Materien in
dem
Auszuge abgehandelt habe, welche ich in dem grössern Werke
ausgelassen. Da
ich schon seit geraumer Zeit an meiner grössern Vernunftlehre
gearbeitet habe,
so darf niemand glauben, als wenn ich zu eilfertig in der Verfertigung
dieser
beiden Schriften gewesen wäre. Wenn mich jemand deswegen tadeln will,
dass ich mit zwei Vernunftlehren zu gleicher Zeit ans Licht trete, so
muss ich
abwarten, was er für eine vernünftige Ursach seines Tadels anzugeben
im Stande
sein wird. Von ohngefähr habe ich §. 63 einen Druckfehler in der
zweiten
Zeile gefunden, wo an statt in einem reichen Grade, gelesen werden muss
in einem gleichen Grade. Die übrigen etwa eingeschlichenen Druckfehler
wird
der geneigte Leser gütigst entschuldigen. Ich wünsche, dass ich, mit
dieser
Schrift, vielen Leuten einen angenehmen Dienst leisten möge.
[1] Einleitung in die Vernunftlehre.
§. 1. Die Vernunftlehre oder die Vernunftkunst
(logica, philosophia instrumentalis,
philosophia rationalis) ist eine Wissenschaft, welche die Regeln
der gelehrten Erkenntniss und des gelehrten Vortrages abhandelt.
§. 2. Damit die Vernunftlehre keine ganz willkürlichen,
gekünstelten und
unnatürlichen Gesetze enthalte, so müssen die Regeln derselben
hergeleitet werden,
1) aus den Erfahrungen von den Würkungen der menschlichen Vernunft,
2) aus
der Natur der menschlichen Vernunft, 3) aus den allgemeinen
Grundwahrheiten,
auf welchen die gesammte menschliche Erkenntniss beruhet.
§. 3. Die Absicht der Vernunftlehre ist entweder die
Vollkommenheit einer
gelehrten Erkenntniss und eines gelehrten Vortrages, welche sich bloss
für
Gelehrte von Profession schicken, oder welche auch andern Gelehrten
anständig und brauchbar sind.
[2] §. 4. Die Vernunftlehre ist ein Mittel, ohne welchem
man keine gelehrte
Erkenntniss und Wissenschaft erlangen kann, und durch dessen gehörigen
Gebrauch eine gelehrte Erkenntniss und Wissenschaft erlangt wird
§. 1.
§. 5. Die Weltweisheit (philosophia) ist eine
Wissenschaft der allgemeinern
Beschaffenheiten der Dinge, in so ferne sie ohne Glauben erkannt
werden.
Da nun die gelehrte Erkenntniss und der gelehrte Vortrag viele Arten
unter sich
begreifen, so sind ihre Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten
allgemeinere
Beschaffenheiten der Dinge, welche in der Vernunftlehre völlig
bewiesen werden,
ohne ihre Wahrheit aus Zeugnissen herzuleiten. Es ist demnach die
Vernunftlehre
ein Theil der Weltweisheit.
§. 6. Die Vernunftlehre handelt entweder von einer völlig
gewissen gelehrten
Erkenntniss und dem Vortrage derselben, oder von der wahrscheinlichen
gelehrten
Erkenntniss und dem Vortrage derselben §. 1. Jene ist die
Vernunftlehre der
ganz gewissen gelehrten Erkenntniss (analytica), und diese die
Vernunftlehre
der wahrscheinlichen gelehrten Erkenntniss (dialectica, logica
probabilium).
Wir handeln die erste Vernunftlehre ab.
§. 7. In der Vernunftlehre werden, die Regeln der gelehrten
Erkenntniss
und des gelehrten Vortrages, entweder auf die besondern Arten derselben
angewendet
oder nicht. Jene ist die ausübende Vernunftlehre (logica practica,
utens) und diese die lehrende Vernunftlehre (logica theoretica,
docens).
§. 8. Wenn die Vernunftlehre so beschaffen ist, wie sie
vermöge ihrer
Natur beschaffen sein kann und muss, so hat sie unter andern einen
dreifachen
Nutzen. 1) Sie befördert die Erlernung und Ausbreitung aller
Wissenschaften,
und der gesammten Gelehrsamkeit. Von der Erlernung der Vernunftlehre
sollte
also billig, ein jeder Studirender, den Anfang machen. 2) Sie
verbessert den
Verstand und die Vernunft, und zeigt wie man diese Erkenntnisskräfte
[3] brauchen
muss, um die Wahrheit auf eine gehörige Art zu erkennen. 3) Sie
befördert
die gesammte Tugend, indem sie den freien Willen verbessert; diejenige
Erkenntniss
verschafft, worauf die Tugend beruhet; und in die Verbesserung des
Gewissens einen unentbehrlichen Einfluss hat.
§. 9. Die Vernunftlehre handelt
I. Von der gelehrten Erkenntniss.
1. Von der gelehrten Erkenntniss überhaupt.
2. Von der Weitläuftigkeit der gelehrten Erkenntniss.
3. Von der Grösse der gelehrten Erkenntniss.
4. Von der Wahrheit der gelehrten Erkenntniss.
5. Von der Klarheit der gelehrten Erkenntniss.
6. Von der Gewissheit der gelehrten Erkenntniss.
7. Von der praktischen gelehrten Erkenntniss.
8. Von gelehrten Begriffen.
9. Von gelehrten Urtheilen.
10. Von gelehrten Vernunftschlüssen.
II. Von der Lehrart der gelehrten Erkenntniss.
III. Von dem gelehrten Vortrage.
1. Von dem Gebrauche der Worte.
2. Von der gelehrten Schreibeart.
3. Von einer gelehrten Rede.
4. Von gelehrten Schriften.
IV. Von dem Charakter eines Gelehrten.
[4] Die Vernunftlehre.
Der erste Haupttheil,
von der gelehrten Erkenntniss.
Der erste Abschnitt,
von der gelehrten Erkenntniss überhaupt.
§. 10. Die Erfahrung lehret, dass wir uns unendlich viele
Dinge vorstellen.
Eine Vorstellung (repraesentatio, perceptio), verhält sich als
ein Bild,
welches, die malerische Geschicklichkeit der Seele, in ihrem Inwendigen
zeichnet.
§. 11. Die Erkenntniss (cognitio) ist entweder ein
Inbegriff vieler Vorstellungen,
oder diejenige Handlung, wodurch eine Vorstellung einer Sache
gewürkt wird. Man kann auch, ohne einen merklichen Irrthum zu besorgen,
Vorstellungen und Erkenntniss für einerlei halten.
§. 12. Von der Vorstellung und der Erkenntniss ist dasjenige
unterschieden,
was wir uns vorstellen, und was wir erkennen. Das letzte wird der
Gegenstand
der Erkenntniss und der Vorstellung genannt (obiectum cognitionis et
repraesentationis).
§. 13. Wir sind uns unserer Vorstellungen und unserer
Erkenntniss
bewusst (conscium esse, adpercipere) in so ferne wir sie und ihren
Gegenstand
von andern Vorstellungen und Sachen unterscheiden. Das Bewusstsein ist
eine
doppelte Vorstellung: eine Vorstellung des Gegenstandes, und eine
Vorstellung
seines Unterschiedes von andern. Das Bewusstsein verhält sich wie das
Licht
in der Körperwelt, welches uns den Unterschied der Körper entdeckt.
[5] §. 14. Wenn wir uns einer Vorstellung bewusst sind, so
sind wir uns
derselben entweder bloss im Ganzen betrachtet bewusst, so dass wir in
derselben
selbst nichts von einander unterscheiden; oder wir sind uns auch des
Mannigfaltigen
in derselben bewusst. In dem ersten Falle haben wir eine undeutliche
oder eine verworrene Erkenntniss (cognitio indistincta et confusa),
in dem
andern aber eine deutliche (cognitio distincta); zum Exempel, wenn
wir einen
Menschen von ferne sehen, so haben wir so lange eine undeutliche
Erkenntniss
von seinem Gesichte, so lange wir die Theile und Züge des Gesichts
nicht erblicken.
Kommt er uns aber näher, und wir
fangen an, seine Augen, seine
Nase und die Züge seines Gesichts gewahr zu werden, so erlangen wir
eine
deutliche Erkenntniss von seinem Gesichte.
§. 15. Dasjenige, woraus eine Sache, es mag nun dieselbe
entweder eine
Erkenntniss oder der Gegenstand derselben sein, erkannt werden kann, ist
der
Grund derselben (ratio), und was aus dem Grunde erkannt werden kann, ist
die Folge desselben (rationatum). Das Licht ist der Grund der
Sichtbarkeit
der Körper, und diese Sichtbarkeit ist eine Folge des Lichts. Der
Zusammenhang
der Sachen (nexus, consequentia) besteht darin, wenn das eine der
Grund
von dem andern ist, oder denselben in sich enthält. Der Grund einer
Sache
ist entweder so beschaffen, dass wir unsere ganze Erkenntniss von derselben
aus ihm herleiten können, dergestalt dass ausser demselben nichts weiter
erfodert
wird, um alles zu erkennen, was in der Sache angetroffen wird; oder er
ist nicht so beschaffen. Jener ist der hinreichende Grund (ratio
sufficiens),
und dieser der unzureichende Grund (ratio insufficiens).
§. 16. Alles was möglich und würklich ist, hat einen
Grund, und es hat
auch alles einen hinreichenden Grund.
[6] §. 17. Wenn wir etwas erkennen, so erkennen wir es
entweder auf
eine deutliche Art aus Gründen, oder nicht. Wenn das erste ist, so
haben wir
eine vernünftige Erkenntniss (cognitio rationalis). Zu einer
solchen Erkenntniss
wird dreierlei erfodert: 1) eine Erkenntniss einer Sache, 2) eine
Erkenntniss
ihres Grundes, und 3) eine deutliche Erkenntniss des Zusammenhangs
der Sache
mit ihrem Grunde. Zum Exempel: wenn ich erkenne, dass alle Menschen
irren
können, weil sie einen eingeschränkten Verstand haben, und ich denke:
wer
einen eingeschränkten Verstand hat, der kann irren; nun haben alle
Menschen
einen eingeschränkten Verstand, also können sie insgesammt irren: so
habe ich
eine vernünftige Erkenntniss von der Wahrheit, dass alle Menschen
irren können.
§. 18. Eine jedwede Erkenntniss, in so ferne sie nicht
vernünftig ist, wird
eine gemeine oder eine historische Erkenntniss genannt (cognitio
vulgaris,
historica). Alle Dinge können historisch erkannt werden, und man mag
sogar
die Gründe derselben erkennen; so lange man den Zusammenhang der
Folgen
mit ihren Gründen nicht deutlich einsieht, so lange hat man nur eine
bloss
historische Erkenntniss.
§. 19. Eine vollkommenere historische Erkenntniss ist eine
schöne Erkenntniss
(cognitio pulcra, aesthetica), und die schönen Wissenschaften
beschäftigen sich mit den Regeln, durch deren Beobachtung die
historische
Erkenntniss verschönert wird.
§. 20. Obgleich die historische Erkenntniss von der vernünftigen sehr
unterschieden ist §. 17. 18, dergestalt, dass die allerschönste
historische Erkenntniss
nicht einmal eine vernünftige Erkenntniss genennet zu werden verdient
§. 19; so ist doch jene zu dieser unentbehrlich, indem ein Mensch
keine
vernünftige Erkenntniss von einer Sache erlangen kann, wenn er nicht
vorher
eine historische Erkenntniss von derselben besitzt.
[7] §. 21. Die gelehrte und philosophische Erkenntniss
(cognitio erudita
et philosophica) ist eine vernünftige Erkenntniss, welche in einem
höhern oder
merklichern Grade vollkommen ist.
§. 22. Wenn das Mannigfaltige in einer Erkenntniss zu einer
Absicht
übereinstimmt, oder den hinreichenden Grund von derselben enthält: so
besteht
darin die Vollkommenheit der Erkenntniss (perfectio cognitionis).
Die Vollkommenheiten
der Erkenntniss finden entweder in ihr
statt, in so ferne sie
deutlich oder in so ferne sie undeutlich ist §. 14. Jene
werden die logischen
Vollkommenheiten der Erkenntniss (perfectio
cognitionis logica), und diese die
Schönheiten derselben genannt (pulcritudo et perfectio aesthetica
cognitionis).
Z.E. die mathematische Gewissheit ist eine logische Vollkommenheit,
und die
malerische Lebhaftigkeit eine Schönheit der Erkenntniss.
§. 23. In so ferne eine Erkenntniss nicht vollkommen ist,
in so ferne ist
sie eine unvollkommene Erkenntniss (imperfectio cognitionis). Die
Unvollkommenheiten
der Erkenntniss finden entweder in ihr
statt, in so ferne sie
deutlich, oder in so ferne sie undeutlich ist §. 14. Jene werden
die logischen
Unvollkommenheiten der Erkenntniss (imperfectio cognitionis
logica), und
diese die Hässlichkeiten derselben genannt (deformitas, imperfectio
cognitionis
aesthetica). Z.E. das Säuische und Zotenmässige in den
Alltagsscherzen ist
eine Hässlichkeit der Erkenntniss; ein falscher Vernunftschluss aber
ist eine
logische Unvollkommenheit derselben.
§. 24. Die gelehrte Erkenntniss muss mit den Vollkommenheiten der
Erkenntniss ausgeschmückt sein §. 21. 22. Folglich besitzt
sie entweder bloss
die logischen Vollkommenheiten der Erkenntniss, indem sie entweder gar
nicht
schön oder zugleich wohl gar hässlich ist; oder sie besitzt ausser den
logischen
Vollkommenheiten die Schönheiten der Erkenntniss §. 22. 23.
Jene ist eine
bloss gelehrte Erkenntniss (cognitio [8] mere erudita), und
diese eine Erkenntniss,
die schön und gelehrt zu gleicher Zeit ist (cognitio
aesthetico-logica).
Die letzte ist vollkommener als die erste, und die erste muss nicht
allein gesucht werden.
§. 25. Je mehr wir erkennen, desto vollkommener ist unsere
Erkenntniss
§. 22. Die erste Vollkommenheit der gelehrten Erkenntniss
besteht also in ihrer
Weitläuftigkeit (vastitas, ubertas cognitionis eruditae), welche
einer Erkenntniss
zugeschrieben wird, in so ferne sie uns viele Gegenstände vorstellt.
§. 26. Je grösser und wichtiger unsere Erkenntniss ist,
desto vollkommener
ist sie, weil eine grosse Sache vieles in sich begreift §. 22.
Die andere Vollkommenheit
der gelehrten Erkenntniss besteht demnach in ihrer Grösse und
Wichtigkeit (dignitas, magnitudo et maiestas cognitionis eruditae),
welche einer
Erkenntniss zukommt, in so ferne sie gross und wichtig ist. Z.E. die
Erkenntniss
GOttes ist wichtiger, als die Erkenntniss von den Kleidern der
Römer.
§. 27. Weil eine falsche Erkenntniss gar keine Erkenntniss
ist, so ist
die Wahrheit der Erkenntniss (veritas cognitionis eruditae) die
dritte Vollkommenheit
derselben. Dieselbe kann die Grundvollkommenheit der Erkenntniss
genennet werden, weil ohne sie die Erkenntniss gar keine Erkenntniss,
und
also auch keiner Vollkommenheit fähig ist.
§. 28. Da wir uns in einer deutlichen Vorstellung mehr vorstellen als
in einer undeutlichen §. 14, so ist die Deutlichkeit der gelehrten
Erkenntniss
die vierte Vollkommenheit derselben §. 25.
§. 29. Das Bewusstsein der Wahrheit einer Erkenntniss ist
ihre Gewissheit
(certitudo subiective spectata). Da nun sowohl die Wahrheit der
Erkenntniss,
als auch das Bewusstsein derselben eine Vollkommenheit ist
§. 13. 17, so ist
die Gewissheit der gelehrten Erkenntniss die fünfte Vollkommenheit
derselben.
[9] §. 30. Eine gelehrte Erkenntniss ist praktisch,
in so ferne sie zu der
Einrichtung unserer freien Handlungen das practica), und darin besteht die sechste Vollkommenheit derselben
§. 22.
§. 31. Je weitläuftiger, wichtiger, richtiger, deutlicher,
gewisser und
praktischer eine gelehrte Erkenntniss ist, desto vollkommener ist sie
§. 25-30.
Da nun ein jeder vernünftiger Mensch allerwegen nach der grössten
Vollkommenheit,
die ihm möglich ist, streben muss; so muss er, wenn er eine gelehrte
Erkenntniss zu erlangen trachtet, 1) alle logische Vollkommenheiten
derselben
zu erreichen suchen, 2) eine jede derselben in dem möglichsten Grade,
und
ausserdem noch 3) die Schönheiten der Erkenntniss §. 22.
§. 32. Wer demnach die allervollkommenste gelehrte
Erkenntniss erlangen
will, der muss nicht mit einer bloss gelehrten Erkenntniss zufrieden sein
§. 24.
31. Sondern ob gleich nicht alle seine gelehrten Vorstellungen zu
gleicher Zeit
schön sein können, so muss doch seine gelehrte Erkenntniss, im Ganzen
betrachtet, zugleich eine schöne Erkenntniss sein, wenn sie anders in
einem
so hohen Grade verbessert werden soll, als möglich ist.
§. 33. Eine gelehrte Erkenntniss kann 1) logisch vollkommen
und unvollkommen
zugleich sein. Z.E. eine richtige deutliche und gewisse Erkenntniss
kann den Fehler haben, dass sie nicht praktisch ist; 2) in einem
höhern Grade
logisch vollkommen als unvollkommen, oder mehr unvollkommen als
vollkommen
sein; 3) logisch vollkommen und schön oder hässlich zu gleicher Zeit
sein;
4) logisch vollkommen und weder schön noch hässlich; 5) logisch
unvollkommen
und zu gleicher Zeit schön oder hässlich §. 22. 23.
§. 34. Wer eine gelehrte Erkenntniss erlangen will, die
zugleich schön
ist §. 32, der muss 1) dieselbe nicht auf die Art und in dem
Grade logisch
vollkommen machen, dass dadurch alle Schönheit derselben verhindert
werde;
2) er muss sie nicht dergestalt und in dem Grade verschönern, dass
[10] dadurch
die erfoderte logische Vollkommenheit derselben unmöglich gemacht werde;
3) er
muss die logischen Vollkommenheiten vornehmlich zu erhalten suchen, und
er
muss die Schönheiten nur sparsamer, als eine Verzierung, anbringen.
§. 35. Wenn einige Vollkommenheiten in der gelehrten
Erkenntniss nicht
zugleich erlangt werden können, so muss man die kleinern und unnöthigern
Vollkommenheiten fahren lassen, um die grössern und nöthigern zu
erhalten.
Man muss demnach in einer gelehrten Erkenntniss, die nicht bloss gelehrt
werden
soll, ofte von der logischen Strenge in Kleinigkeiten nachlassen, um die
grössere
Schönheit der Erkenntniss zu erlangen.
§. 36. Die Unvollkommenheiten der gelehrten Erkenntniss sind
entweder
Mängel oder Fehler. Ein Mangel der gelehrten Erkenntniss
(defectus cognitionis
eruditae) entsteht daher, wenn gewisse Regeln ihrer Vollkommenheit
nicht
beobachtet und auch nicht übertreten werden. Z.E. wenn ein
Hauptbegriff gar
nicht erklärt wird, so werden die Regeln der Erklärungen weder
beobachtet
noch übertreten. Ein Fehler der gelehrten Erkenntniss (vitium
cognitionis
eruditae) entsteht daher, wenn die Regeln ihrer Vollkommenheit
übertreten
werden. Z.E. wenn man einen Begriff falsch erklärt.
Ob man gleich alle
Mängel und Fehler vermeiden muss, so muss man sich doch mehr vor den
letztern hüten, weil man sagen kann, dass ein jeder Fehler mit einem
Mangel
verknüpft ist, und ein Fehler ist demnach eine grössere Unvollkommenheit als
ein blosser Mangel.
§. 37. Die gemeine und historische Erkenntniss kann viel
vollkommener
sein, als die bloss gelehrte, wenn sie nämlich sehr schön ist
§. 22. 23. Z.E. ein
ungelehrter General und Minister kann eine viel vollkommenere
Erkenntniss
besitzen, als ein gelehrter und pedantischer Bücherwurm. Dieser Vorzug
kommt
der gemeinen Erkenntniss nur zufälliger Weise [11] zu, wenn
die gelehrte Erkenntniss
nicht so vollkommen ist, als sie sein könnte und sollte.
§. 38. Die gelehrte Erkenntniss ist allemal nothwendiger Weise vollkommener
als die gemeine, wenn sie in den übrigen Stücken einander gleich
sind §. 18. 21.
§. 39. Obgleich die gemeine Erkenntniss sehr nützlich, und
in unendlich
vielen Fällen zureichend ist, unsere Wohlfahrt zu befördern, ja
obgleich manche
gemeine Erkenntniss zufälliger Weise nützlicher sein kann, als manche
gelehrte:
so ist doch die gelehrte nothwendiger Weise nützlicher als die gemeine,
wenn
sie in den übrigen Stücken einander gleich sind. Denn 1) da sie
vollkommener
ist §. 38, so verbessert sie auch die Erkenntnisskraft in einem
höhern Grade
als die gemeine; 2) um eben der Ursach willen schafft sie ein
grösseres Vergnügen
als die gemeine; 3) sie ist dem Charakter der Menschheit gemässer und
anständiger als die gemeine; 4) sie befördert die Erfindung neuer
Wahrheiten
mehr als die gemeine; und 5) kann sie viel geschickter und besser
angewendet
und ausgeübt werden, als die gemeine Erkenntniss.
§. 40. Eine gelehrte Erkenntniss, welche zugleich schön ist,
verschafft
alle Nutzen der gelehrten §. 39, und alle Nutzen der schönen
Erkenntniss. Und
da sie zugleich allen Schaden der bloss gelehrten und der bloss schönen
Erkenntniss
verhütet: so ist sie unter allen Arten der menschlichen Erkenntniss
die nützlichste und brauchbarste Erkenntniss.
Der andere Abschnitt,
von der Weitläuftigkeit der gelehrten Erkenntniss.
§. 41. Die Unvollkommenheit der gelehrten Erkenntniss,
welche der Weitläuftigkeit
derselben entgegengesetzt ist §. 25, ist die Armseligkeit der
gelehrten
Erkenntniss (angustia eruditae cognitionis), und es entsteht
dieselbe allemal
aus der Unwissenheit (ignorantia) oder aus dem gänzlichen [12]
Mangel der
Erkenntniss der Dinge und ihrer Gründe. In dem Maasse, als die
Weitläuftigkeit
der gelehrten Erkenntniss eines Menschen zunimmt,
nimmt seine Unwissenheit
ab, und je grösser die Unwissenheit eines Menschen ist, desto
armseliger ist
seine gelehrte Erkenntniss.
§. 42. Der Weitläuftigkeit der gelehrten Erkenntniss ist
eine doppelte
Unwissenheit entgegengesetzt: 1) eine gänzliche Unwissenheit
(ignorantia
totalis), wenn wir nicht einmal eine historische Erkenntniss von einer
Sache
haben; und 2) eine Unwissenheit der Gründe der Dinge (ignorantia
rationum),
bei welcher eine vortreffliche historische Erkenntniss derselben noch
statt finden
kann.
§. 43. Die Unwissenheit eines Menschen ist 1) eine
schlechterdings
nothwendige und unvermeidliche Unwissenheit (ignorantia absolute
necessaria
et invincibilis), welche er um der Schranken seiner Erkenntnisskraft
willen nicht
vermeiden kann; und 2) eine freiwillige (ignorantia arbitraria et
vincibilis),
deren entgegengesetzte Erkenntniss er erlangen könnte, wenn er wollte.
§. 44. Der Inbegriff aller derjenigen Dinge, welche ein
Mensch, ohne
Nachtheil seiner übrigen gesammten Vollkommenheit, auf eine gelehrte
Art erkennen
kann, ist der Horizont, oder der Gesichtskreis seiner gelehrten
Erkenntniss
(horizon seu sphaera cognitionis eruditae). Es werden also von
demselben
alle Dinge ausgeschlossen, in deren Absicht ein Mensch
nothwendiger
oder freiwilliger Weise unwissend bleiben muss §. 43.
§. 45. Eine Sache ist über den Horizont der menschlichen
gelehrten
Erkenntniss erhöhet (res supra horizontem eruditae cognitionis
humanae posita),
wenn die Unwissenheit derselben in einem Menschen schlechterdings
nothwendig
ist, ob sie gleich einer gelehrten
Erkenntniss nicht unwürdig ist. Der menschliche
Verstand ist zu schwach, als dass er diese wichtigen Sachen sollte
gelehrt
zu erkennen im Stande sein. Ob man nun
gleich solche Sachen nicht [13] verachten
muss, die über unsern Horizont gehen, und ob man
gleich ohne hinreichenden
Grund nichts für eine Sache ausgeben muss, die über den Horizont
unserer Erkenntniss erhöhet ist; so muss man doch das vergebliche und
schädliche
Bestreben nach einer gelehrten Erkenntniss solcher Sachen, die über
unsern
Horizont gehen, aufs möglichste zu vermeiden suchen.
§. 46. Eine Sache ist unter den Horizont der menschlichen
gelehrten
Erkenntniss erniedriget (res infra horizontem eruditae cognitionis
humanae
posita), welche von einem Menschen zwar gelehrt erkannt werden
könnte, die
aber nicht gross genung ist, um einer solchen Erkenntniss werth zu sein.
Gleichwie man nun nicht ohne genugsamen Grund eine Sache für etwas
ausgeben
muss, welches unter den Horizont der menschlichen gelehrten
Erkenntniss
erniedriget ist, also muss man sich auch nicht bemühen, solche Dinge
gelehrt
zu erkennen, welche würklich unter den Horizont der menschlichen
gelehrten
Erkenntniss erniedriget sind. Widrigenfalls macht man sich lächerlich
und verächtlich,
und man versäumt darüber die gelehrte Erkenntniss wichtigerer und
nöthigerer Sachen.
§. 47. Eine Sache ist ausser dem Horizonte der gelehrten
menschlichen
Erkenntniss (res extra horizontem cognitionis humanae eruditae
posita),
welche zwar von einem Menschen auf eine gelehrte Art erkannt werden
könnte,
welche auch einer menschlichen gelehrten Erkenntniss nicht unwürdig ist,
deren
gelehrte Erkenntniss aber einen Menschen an seinen übrigen nöthigen
Beschäftigungen
verhindern würde. Niemand muss ohne genugsamen Grund eine Sache für
etwas ausgeben, welches ausser dem Horizonte seiner gelehrten
Erkenntniss angetroffen
wird; es muss aber auch niemand nach einer gelehrten Erkenntniss
solcher Sachen streben, die ausser dem Horizonte seiner gelehrten
Erkenntniss
befindlich sind, weil er sich widrigenfalls in fremde Händel mischen,
und darüber
sein Werk versäumen würde.
[14] §. 48. Alle diejenigen Sachen, welche weder über
den Horizont der
menschlichen gelehrten Erkenntniss erhöhet sind, noch unter denselben
erniedriget
sind, noch ausser demselben angetroffen werden, sind innerhalb dem
Umfange des Horizonts der menschlichen gelehrten Erkenntniss befindlich
(res intra horizontem cognitionis humanae eruditae posita), und sie
machen den
gelehrten Horizont aus §. 44.
§. 49. Die allerweitläuftigste gelehrte Erkenntniss eines
Menschen besteht
in der gelehrten Erkenntniss aller Dinge, die innerhalb dem Umfange
seines
Horizonts befindlich sind §. 48. 25. Da nun ein jeder
Gelehrter die weitläuftigste
gelehrte Erkenntniss, die ihm möglich ist, erlangen muss; so muss er die
Grenzen
und den Umfang seines Horizonts so genau auszumessen suchen, als es die
Schwachheit der Menschen erlaubt §. 44.
§. 50. Und wenn ein Mensch auch die allerweitläuftigste
gelehrte Erkenntniss
erlangt haben sollte, so bleibt doch noch viele
nothwendige Unwissenheit übrig,
die ihm weder zur Ehre noch zur Schande gereicht §. 43. Was aber
die freiwillige
Unwissenheit betrifft, so ist sie entweder lobenswürdig oder
tadelnswürdig.
Die lobenswürdige Unwissenheit (ignorantia laudabilis), ist die
Unwissenheit solcher Dinge, die unter und ausser dem Horizonte der
gelehrten
Erkenntniss angetroffen werden §. 46. 47.
§. 51. Die tadelnswürdige Unwissenheit (ignorantia
illaudabilis), ist
die Unwissenheit solcher Dinge, die innerhalb dem Horizonte der
gelehrten Erkenntniss
angetroffen werden §. 48. Wer also die allerweitläuftigste
gelehrte
Erkenntniss erlangen will, der muss alle tadelnswürdige Unwissenheit,
und sonst
keine andere Unwissenheit zu vermeiden suchen §. 49.
§. 52. Es ist eine lächerliche Thorheit mancher armseligen
Köpfe unter
den Gelehrten, wenn sie sich ihre tadelnswürdige Unwissenheit als ein
Verdienst
anrechnen, [15] und mit dem Sokrates, der eine sehr weitläuftige Gelehrsamkeit
besass, von sich vorgeben: dass sie nichts wissen, ausser dass sie nichts
wissen.
§. 53. Je mehr Sachen jemand auf eine gelehrte Art erkennet,
desto
weitläuftiger ist seine gelehrte Erkenntniss. Ein höherer oder
merklicher, und
folglich seltener Grad der Weitläuftigkeit der gelehrten Erkenntniss,
wird die
Vielwisserei (polyhistoria) genennet. Es ist dieselbe unleugbar
eine grosse
Vollkommenheit der gelehrten Erkenntniss, wenn man nur durch den Geiz
nach
der Polyhistorie nicht verleitet wird, 1) die Schranken seines
gelehrten Horizonts
zu überschreiten, und 2) die übrigen Vollkommenheiten der gelehrten
Erkenntniss
gar zu merklich zu verabsäumen.
§. 54. Wer seine gelehrte Erkenntniss weitläuftig genung
machen will,
der muss 1) viele Haupttheile der Gelehrsamkeit lernen. Z.E. die
Weltweisheit,
Gottesgelahrtheit, Historie, Philologie u.s.w. 2) Aus einem
jedweden Haupttheile
viele Theile, z.E. aus der Weltweisheit die Vernunftlehre,
Metaphysik,
Physik, Recht der Natur u.s.w. 3) Einen jeden dieser Theile
muss er wiederum
weitläuftig lernen, z.E. die Vernunftlehre, und 4) von einer jeden
einzeln
Wahrheit muss er wiederum eine weitläuftige gelehrte Erkenntniss zu
erlangen
suchen, z.E. von der Allwissenheit GOttes.
§. 55. Eine weitläuftige gelehrte Erkenntniss ist
ausführlich und vollständig
(completa cognitio erudita), wenn sie zu ihren Absichten zureicht,
oder
wenn wir so viel gelehrt erkennen, als die ganze Absicht unserer
gelehrten
Erkenntniss erfodert. Die Weitläuftigkeit ohne Ausführlichkeit ist
nicht vollkommen
genung, und man muss demnach die vornehmsten Wahrheiten von den
Nebensachen in einem jedweden Gegenstande der gelehrten Erkenntniss
unterscheiden
lernen, damit man durch die gelehrte Erkenntniss der erstern eine
vollständige Gelehrsamkeit erlange.
[16] §. 56. Wer bloss auf eine cavaliermässige Art
studirt, indem er bloss
einen weitläuftigen Entwurf aller Theile der Gelehrsamkeit flüchtig
durchläuft;
einige wenige Theile der Gelehrsamkeit zwar etwas weitläuftiger, aber
doch
ganz kurz durchgeht; und etwa hie und da einige besondere Materien
untersucht,
weil sie ihm irgends um einer Ursach
willen vorzüglich gefallen: dessen
gelehrte Erkenntniss ist ein schlechtes Gerippe der Gelehrsamkeit, und
verdient
eine sehr geringe Achtung §. 55.
§. 57. Weil es unmöglich ist, dass ein Mensch eine ausführlich weitläuftige
gelehrte Erkenntniss mit einem Male erlange; so muss man beständig
die gelehrte Erkenntniss zu erweitern suchen: damit man in derselben
nicht
rückwärts gehe, indem man weiter vorwärts zu gehen unterlässt.
§. 58. Weil, durch die Erweiterung der gelehrten
Erkenntniss, die Erkenntnisskräfte
zu gleicher Zeit fähiger gemacht werden; so hat man nicht zu
besorgen, dass man durch die beständige Erweiterung der gelehrten
Erkenntniss
seinen Kopf überladen werde, wenn man nur bei dieser Beschäftigung die
Grenzen des gelehrten Horizonts nicht überschreitet.
§. 59. Ob gleich die Kunst lang und das menschliche Leben
kurz ist, so
muss uns diese Betrachtung vielmehr anreizen, mit der gehörigen
Eilfertigkeit
so viel zu erlernen als möglich ist, als dass sie uns eine Zaghaftigkeit
und
Muthlosigkeit einflössen sollte, die uns an der Erweiterung der
gelehrten Erkenntniss
verhindert.
§. 60. Damit man die Erweiterung der gelehrten Erkenntniss
nicht für
unnöthig und unnütz ansehe, muss man sich keinen zu kleinen, geringen
und
niederträchtigen Zweck vorsetzen, den man durch seine gelehrte
Erkenntniss zu
erreichen trachtet.
§. 61. Da es natürlich nothwendig ist, dass wir Menschen
vieles vergessen;
so muss man eben deswegen die gelehrte Erkenntniss sehr erweitern, damit
man
viel vergessen [17] und dem ohnerachtet noch viel behalten könne.
Die Wahrheiten,
die wir vergessen, sind ohnedem nicht ganz unnütz gewesen, weil sie
den Grad unserer Erkenntnisskräfte vermehrt haben.
§. 62. Die Weitläuftigkeit der gelehrten Erkenntniss
entsteht aus einer
doppelten Quelle, welche beide beisammen sein müssen: 1) aus der
Weitläuftigkeit
und dem reichen Inhalte des Gegenstandes, wenn derselbe vieles
in sich enthält, so von einem Menschen auf eine gelehrte Art erkannt
werden
kann (vastitas obiectiva); und 2) aus der Ausdehnung der
Erkenntnisskräfte
(vastitas subiectiva), vermöge welcher man im Stande ist, viel auf
eine gelehrte
Art von einer Sache zu erkennen.
§. 63. Weil es unmöglich ist, dass ein Mensch alle Theile
der Gelehrsamkeit
in einem gleichen Grade der Vollkommenheit erlerne; so muss sich
ein
jeder einen derselben aussuchen, mit welchem er sich am meisten
beschäftiget,
und von welchem er die vollkommenste gelehrte Erkenntniss zu erlangen
trachtet.
Derselbe ist seine Hauptwissenschaft (scientia eruditi
principalis). Ein jeder
muss sich zu seiner Hauptwissenschaft denjenigen Theil der
Gelehrsamkeit erwählen,
1) welcher von den Menschen in einem sehr hohen Grade der
Vollkommenheit
erkannt werden kann, und 2) zu welchem er die meiste Geschicklichkeit,
vernünftige Lust, und andere Beförderungsmittel besitzt.
§. 64. Ein jeder muss 1) seine Hauptwissenschaft am
weitläuftigsten und
ausführlichsten lernen, und 2) alle andere Theile der Gelehrsamkeit
in Beziehung
auf seine Hauptwissenschaft untersuchen. Je näher ein anderer Theil
der
Gelehrsamkeit mit der Hauptwissenschaft verbunden ist, desto
vollkommener und
weitläuftiger muss man denselben gelehrt zu erkennen suchen §. 63.
§. 65. Die Armseligkeit der gelehrten Erkenntniss verursacht
unter andern
einen dreifachen Schaden: 1) Die gelehrte [18] Pedanterei und
Charlatanerie
(pedantismus et charlataneria eruditorum), vermöge
welcher man das wenige,
was man versteht, gar zu hoch schätzt, und alles übrige ganz verachtet;
2) eine
lächerliche Einbildung und einen eiteln Hochmuth; und 3) wenige
Gelehrsamkeit
kann einen Menschen Zeit Lebens unglücklich machen, indem er just in
solche
Umstände gerathen kann, in welchen dasjenige, was er gelernt hat, nicht
von ihm
verlanget wird, und dasjenige, was er nicht gelernt hat, von ihm erwartet
wird.
Der dritte Abschnitt,
von der Grösse der gelehrten Erkenntniss.
§. 66. Die Grösse der gelehrten Erkenntniss erfodert nicht
nur einen
grossen Gegenstand, sondern die Erkenntniss muss auch für den
Gegenstand
gross genung sein §. 26. Je grösser der Gegenstand, und je
proportionirter
die Erkenntniss ist, desto grösser ist die gelehrte Erkenntniss.
§. 67. Der Gegenstand der gelehrten Erkenntniss ist vor
sich betrachtet
gross (magnitudo eruditae cognitionis obiectiva absoluta), wenn er
viel Mannigfaltiges
in sich enthält, welches auf eine gelehrte Art erkannt werden kann.
Zum Exempel: GOtt, die Weltweisheit, die Historie u.s.w.
§. 68. Der Gegenstand der gelehrten Erkenntniss ist in
Absicht auf
seine Folgen gross (magnitudo eruditae cognitionis obiectiva
respectiva), 1) wenn
er wichtig ist (res digna, gravis), das ist, wenn er grosse Folgen
hat, z.E.
wenn auf ihm die Glückseligkeit der Menschen, das Wohl des
Vaterlandes u.s.w.
beruhet; 2) wenn er fruchtbar ist (res foecunda), das ist, wenn
viele Folgen
aus ihm herfliessen. Z.E. die Gottseligkeit, denn sie ist zu allen
Dingen nütze.
[19] §. 69. Wer seine gelehrte Erkenntniss recht gross
machen will, der
muss lauter schlechterdings grosse, wichtige und fruchtbare Sachen zu
erkennen
suchen. Je mehr der Gegenstand in sich enthält, je grösser seine
Folgen sind,
und je mehr Folgen er hat, desto grösser, wichtiger und fruchtbarer ist
er; und
desto grösser, wichtiger und fruchtbarer ist die gelehrte Erkenntniss
desselben,
in so ferne man sie nämlich in Absicht auf ihren Gegenstand betrachtet.
§. 70. Die Grösse der gelehrten Erkenntniss, welche ihr
selbst zukommt
(magnitudo cognitionis eruditae subiectiva), besteht darin, wenn sie
der
Grösse ihres Gegenstandes proportionirt ist §. 66. Je grösser
der Gegenstand
ist, desto weitläuftiger, richtiger, deutlicher, gewisser und praktischer
muss die
gelehrte Erkenntniss desselben sein, und desto mehr Zeit und Fleiss
muss auf
die Erlangung derselben gewendet werden. Je weniger gross der
Gegenstand
ist, desto weniger vollkommen muss die gelehrte Erkenntniss sein, und
desto
weniger Zeit und Fleiss muss auf die Erlangung derselben gewendet
werden.
§. 71. Die Unvollkommenheit der gelehrten Erkenntniss,
welche ihrer
Grösse entgegengesetzt ist, wird die Kleinigkeit derselben genennet
(parvitas,
vilitas cognitionis eruditae); und sie entsteht entweder aus der
Kleinigkeit des
Gegenstandes, oder daher, wenn die gelehrte Erkenntniss dem Gegenstande
nicht
proportionirt ist §. 66.
§. 72. Der Gegenstand der gelehrten Erkenntniss ist, vor
sich betrachtet,
klein (parvitas cognitionis eruditae obiectiva absoluta), wenn er
wenig in sich
enthält, welches auf eine gelehrte Art erkannt werden kann. Z.E. die
Haarnadeln
des römischen Frauenzimmers.
§. 73. Der Gegenstand der gelehrten Erkenntniss ist, in
Absicht auf
seine Folgen, klein (parvitas cognitionis eruditae obiectiva
respectiva), 1) wenn
er nicht wichtig ist (res$f leviores), das ist, wenn er keine
grossen Folgen hat,
z.E. die Lehre von der Zusammensetzung der [20] Körper aus
Monaden;
2) wenn er unfruchtbar ist (res infoecunda, sterilis), das ist,
wenn er nicht
viele Folgen hat, z.E. die Lehre von der Unkörperlichkeit der
Seele.
§. 74. Wenn eine Sache in allen Absichten klein ist §.
72. 73, so ist sie
keiner gelehrten Erkenntniss werth: denn sie ist unter den Horizont
derselben
erniedriget §. 46. Je weniger eine Sache in sich enthält, je
wenigere und
kleinere Folgen sie hat, desto kleiner ist sie. Zu diesen Kleinigkeiten
muss
man auch die pöbelhaften und niederträchtigen Dinge rechnen (res
plebeiae,
abiectae), deren gelehrte Untersuchung den ehrbaren Sitten sogar
zuwider sein
würde, z.E. die Ausbrüche der Laster unter dem Pöbel.
§. 75. Die Kleinigkeit der gelehrten Erkenntniss, welche
ihr selbst
zukommt (parvitas cognitionis eruditae subiectiva), besteht darin,
wenn sie den
Gegenständen nicht proportionirt ist §. 71. Folglich 1) wenn
man eine vollkommenere
gelehrte Erkenntniss mit mehrerer Mühe sucht, und mehr Zeit darauf
wendet, als der Gegenstand verdient; und 2) wenn man einen Gegenstand
nicht
so vollkommen erkennet, nicht mit so vieler Mühe untersucht, und nicht
so viel
Zeit drauf wendet, als er verdient. Z.E. wer die Irrthümer
gelehrter und
fleissiger bestürmt, als die Laster, dessen gelehrte Erkenntniss ist
nicht proportionirt
genung.
§. 76. Wer seine gelehrte Erkenntniss recht vollkommen machen
will, der
muss 1) wenn es ihm möglich ist, zu seiner Hauptwissenschaft den
grössten
§. 67. 68 Theil der Gelehrsamkeit erwählen §. 63; 2) je
grösser ein Theil der
Gelehrsamkeit ist, desto mehr Mühe und Fleiss muss er auf denselben
wenden,
und desto vollkommener muss die gelehrte Erkenntniss desselben sein; 3)
je
grösser die Wahrheiten sind, desto mehr Mühe und Zeit muss er auf
dieselbe
wenden, und desto vollkommener muss seine gelehrte Erkenntniss derselben
sein.
[21] §. 77. Wer keine reife und männliche Beurtheilung
besitzt, der kann
unmöglich von dem wahren Werthe der Dinge urtheilen, und es ist ihm
also
unmöglich, die Grösse der gelehrten Erkenntniss zu erreichen.
§. 78. Weil alle Gegenstände der gelehrten Erkenntniss in
einer allgemeinen
Verbindung stehen, so sind sie alle unendlich gross, wichtig und
fruchtbar §. 67. 68. Ein Gegenstand wird also nur eine
Kleinigkeit in Beziehung
auf uns genannt, weil es uns unmöglich ist, seine Grösse, Wichtigkeit
und
Fruchtbarkeit gelehrt zu erkennen.
§. 79. Gleichwie eine gelehrte Erkenntniss sammt ihrem
Gegenstande nicht
deswegen für gross zu achten ist, weil dieser oder jener kleiner Geist
ein grosses
Aufheben von derselben macht; also muss man sie auch nicht für klein
halten,
weil sie von eben demselben für eine geringschätzige Sache ausgegeben
wird.
§. 80. Eine gelehrte Erkenntniss ist deswegen keine
geringschätzige und
unfruchtbare Kleinigkeit, weil dieser oder jener trockener und unfruchtbarer
Kopf nicht vermögend ist, aus derselben viele und wichtige Folgen
herzuleiten.
Der Pflanze ist die Unfruchtbarkeit des Erdbodens nicht zuzurechnen.
§. 81. Die Anwendung einer grossen gelehrten Erkenntniss auf
kleine,
lächerliche, pöbelhafte und verächtliche Fälle, kann dieselbe zwar
zufälliger Weise
lächerlich, verächtlich und pöbelhaft machen; allein sie muss deswegen
nicht zu den geringschätzigen Kleinigkeiten gerechnet werden.
§. 82. Wenn die grossen Gegenstände der gelehrten
Erkenntniss, auf
eine verachtenswürdige und lächerliche Art, von diesem oder jenem
vorgestellt
und vorgetragen werden; so müssen sie deswegen nicht zu den verachtungswürdigen
Kleinigkeiten gerechnet werden.
§. 83. Ein Gelehrter muss nicht durch seine eigene Schuld,
durch die
elende Anwendung, und durch lächerliche [22] Vorstellungen und
Ausdrücke,
die gelehrte Erkenntniss lächerlich und verächtlich machen §. 81.
82.
§. 84. Wenn eine gelehrte Erkenntniss in unsern dermaligen
Umständen
nicht wichtig und fruchtbar sein sollte, weil wir ihre Folgen noch nicht
einsehen;
so kann sie doch künftig wichtig und fruchtbar werden, und sie ist also
deswegen keine Kleinigkeit. Wir müssen auch für unsere Nachkommen
Bäume
pflanzen, deren Früchte wir nicht geniessen.
§. 85. Man beschimpft sich selbst, wenn man die abstracte
Erkenntniss,
die Subtilitäten und die tiefsinnigen Unterscheidungen nicht für
grosse und
wichtige Sachen hält, weil sie viel mühsames Nachdenken erfodern.
§. 86. Die Zwischenwahrheiten in einem weitläuftigen
Lehrgebäude haben
zwar an sich nicht viel zu bedeuten; allein weil man ohne denenselben die
Hauptwahrheiten nicht recht gelehrt erkennen kann, so sind sie deswegen
grosse
und würdige Gegenstände unserer gelehrten Erkenntniss.
§. 87. Eine gelehrte Untersuchung ist deswegen nicht
wichtig, weil sie
viel Mühe, Fleiss und Zeit erfodert, und weil sie nicht ohne grosse
Gelehrsamkeit
angestellt werden kann: denn es giebt auch sehr schwere Possen.
§. 88. Ein Theil der Gelehrsamkeit ist deswegen nicht unter
die Kleinigkeiten
zu rechnen, weil er mit vielen Kleinigkeiten angefüllt ist.
§. 89. Eine gelehrte Erkenntniss, welche in einer Absicht
nicht gross ist,
die kann in einer andern Absicht gross sein, und sie muss also nicht
für eine
Kleinigkeit gehalten werden §. 67. 68. Z.E. eine
Erkenntniss kann nicht wichtig,
aber doch fruchtbar sein.
§. 90. Weil verschiedene Gelehrte verschiedene Hauptwissenschaften sich
erwählt haben können §. 63, so kann eine gelehrte Untersuchung in
Absicht
auf den einen gross, und in Absicht auf den andern klein sein.
[23] §. 91. Ein grosser Geist besitzt die Fertigkeit,
nur eine grosse
gelehrte Erkenntniss zu haben. Seine Neigung zu derselben und sein
Abscheu
vor allen Kleinigkeiten nöthigen ihn, allemal erst die Grösse der
Sache zu untersuchen,
ehe er sich bemüht, dieselbe auf eine gelehrte Art zu erkennen, damit
er wisse, ob sie einer gelehrten Erkenntniss, und welches Grades der
Vollkommenheit
derselben sie werth sei.
Der vierte Abschnitt,
von der Wahrheit der gelehrten Erkenntniss.
§. 92. Eine falsche oder unrichtige Erkenntniss (cognitio
falsa), ist
eine Erkenntniss, welche keine Erkenntniss ist, und doch eine
Erkenntniss zu
sein scheint. Eine falsche gelehrte Erkenntniss (cognitio erudita
falsa), scheint
nur eine gelehrte Erkenntniss zu sein, und sie ist entweder gar keine
Erkenntniss,
oder doch wenigstens keine gelehrte Erkenntniss. Z.E. diejenigen,
welche die
wachsthümliche Seele der Pflanzen annehmen, und den Wachsthum der
Pflanzen
aus derselben herleiten, haben eine falsche gelehrte Erkenntniss.
§. 93. Eine wahre oder richtige Erkenntniss (cognitio
vera), scheint
nicht nur eine Erkenntniss zu sein, sondern sie ist es auch in der That.
Eine
wahre gelehrte Erkenntniss (cognitio erudita vera), scheint nicht
nur eine
gelehrte Erkenntniss zu sein, sondern sie verdient auch diesen Namen in
der
That. Z.E. wer die Würklichkeit GOttes aus der Zufälligkeit
dieser Welt überzeugend
darthut, hat eine wahre gelehrte Erkenntniss.
§. 94. Die Kennzeichen der Richtigkeit und Unrichtigkeit
der Erkenntniss
(criteria veritatis et falsitatis cognitionis), sind die Gründe,
aus denen
erkannt werden kann, dass eine Erkenntniss wahr, oder dass sie falsch
sei.
Und sie sind entweder in der Erkenntniss selbst vorhanden, [24] oder
nicht. Jene
sind die innerlichen, und diese die äusserlichen Kennzeichen der
Richtigkeit
und Unrichtigkeit (criteria interna et externa veritatis et falsitatis
cognitionis).
§. 95. Das erste innerliche Kennzeichen der Wahrheit einer
Erkenntniss
besteht in der innern Möglichkeit derselben (possibilitas cognitionis
interna),
in so ferne sie etwas Mögliches vorstellt, und nichts enthält, welches
einander
zuwider ist, und wenn man sie auch ganz allein betrachtet. Die innerliche
Unmöglichkeit der Erkenntniss (impossibilitas cognitionis
interna), wenn sie
nichts vorstellt, und wenn das Mannigfaltige in ihr wider einander
streitet, ist
also das erste innerliche Kennzeichen, dass sie falsch ist §. 94.
93. 92.
§. 96. Das andere innerliche Kennzeichen der Wahrheit einer
Erkenntniss
besteht darin, wenn sie in einem Zusammenhange möglich ist (possibilitas
cognitionis hypothetica). Folglich 1) wenn sie eine Folge richtiger
Gründe, und
2) ein Grund richtiger Folgen ist, §. 94. 93. Es ist
demnach eine Erkenntniss
wahr, wenn sie nicht unmöglich ist, und dem Satze des zureichenden
Grundes
gemäss ist §. 16.
§. 97. Eine Erkenntniss ist falsch, wenn sie im
Zusammenhange unmöglich
ist (impossibilitas in nexu); folglich wenn sie keine oder falsche
Gründe,
und keine oder falsche Folgen hat §. 96. Und dieses ist das
andere innerliche
Kennzeichen ihrer Unrichtigkeit §. 94.
§. 98. Wir müssen nicht annehmen: 1) dass eine Erkenntniss
wahr sei,
weil wir keine innerliche Unmöglichkeit in ihr gewahr werden; 2)
dass sie
falsch sei, weil wir keine innerliche Möglichkeit in derselben gewahr
werden;
3) dass eine Erkenntniss wahr sei, deren Ungrund und falsche Gründe
und
Folgen wir nicht gewahr werden; 4) dass eine Erkenntniss falsch sei,
von der
wir keine richtigen [25] Gründe und Folgen erkennen. Denn wir
Menschen
sind nicht allwissend.
§. 99. Wenn wir uns eine Sache anders vorstellen als sie ist,
so glauben
wir sie zu erkennen, und erkennen sie doch nicht. Es ist demnach unsere
Erkenntniss falsch §. 92. Überdies haben alle mögliche Dinge
eine innerliche
Möglichkeit, Gründe und Folgen §. 15. 16. Es besteht
demnach die logische
Wahrheit der Erkenntniss (veritas cognitionis logica), in der
Übereinstimmung
derselben mit ihrem Gegenstande, und die logische Unrichtigkeit
derselben
(falsitas cognitionis logica) darin, wenn sie mit ihrem
Gegenstande nicht
übereinstimmt §. 95. 96. 97.
§. 100. Wenn eine Erkenntniss nichts Wahres enthält, so
ist sie ganz
falsch (falsitas totalis), und wenn sie nichts Falsches enthält,
so ist sie ganz
wahr (veritas totalis). Sie kann aber wahr und falsch zugleich,
aber in verschiedener
Absicht, sein, (veritas et falsitas partialis). Man muss demnach
eine
weitläuftige Erkenntniss nicht ganz annehmen, weil vielleicht wohl gar
das
Meiste und Wichtigste in derselben wahr ist; und nicht ganz verwerfen,
weil
vielleicht wohl gar das Meiste und Wichtigste in derselben falsch ist.
Zum
Exempel, die Lehrgebäude verschiedener Religionen.
§. 101. Je mehrere und mannigfaltigere Stücke eine
Erkenntniss
in sich enthält, die beisammen möglich sind, je grösser diese Stücke
sind: und je
mehrere und grössere richtige Gründe und Folgen sie hat, desto
richtiger ist die
Erkenntniss §. 95. 96. Wer also seine gelehrte Erkenntniss
aufs möglichste
verbessern will, der muss in ihr den möglichsten Grad der Wahrheit zu
erreichen
suchen.
§. 102. Eine Erkenntniss, welche in einem höhern Grade
richtig ist, wird
eine genaue Erkenntniss (cognitio exacta, exasciata) genennet;
welche aber in
einem kleinern Grade wahr ist, heisst eine grobe (cognitio crassa).
Alle grobe
Erkenntniss muss vermieden werden, und zwar [26] um so viel mehr, je
gröber
sie ist, oder je mehreres und wichtigeres Falsche sie enthält. Im
Gegentheil
muss die vollkommene gelehrte Erkenntniss so genau sein als möglich
§. 101,
und je grösser die Gegenstände sind, desto genauer muss man sie zu
erkennen
suchen §. 70. Je kleiner sie aber sind, desto weniger richtig
darf ihre Erkenntniss
sein §. 70.
§. 103. Die gelehrte Erkenntniss kann auf eine dreifache
Weise falsch
sein: 1) wenn die Erkenntniss der Sachen falsch ist, obgleich die
Erkenntniss
der Gründe richtig ist; 2) wenn die Erkenntniss der Gründe falsch,
ob gleich
die Erkenntniss der Sachen richtig ist; 3) wenn die Vorstellung des
Zusammenhangs
zwischen wahren Gründen und Folgen unrichtig ist §. 100. Eine
wahre
gelehrte Erkenntniss muss also eine richtige Erkenntniss der Sachen,
der Gründe,
und ihres Zusammenhanges zu gleicher Zeit sein §. 21.
§. 104. Durch Wahrheiten (veritates) versteht man auch
die wahre Erkenntniss
selbst, und alsdenn sind alle Wahrheiten entweder dogmatische
(veritates dogmaticae), oder historische (veritates
historicae). Jene können und
müssen aus den innerlichen Kennzeichen der Wahrheit erkannt werden,
diese
aber nur aus den äusserlichen. Z.E. dass ein GOtt sei, ist eine
dogmatische
Wahrheit; dass aber David der zweite König der Israeliten
sei, ist eine
historische. Ein Lehrgebäude (systema) ist eine Menge
dogmatischer Wahrheiten,
welche dergestalt mit einander verbunden werden, dass sie zusammengenommen
eine Erkenntniss ausmachen, welche man als ein Ganzes betrachten
kann.
§. 105. Je mehr Wahrheiten in einem Lehrgebäude vorkommen,
je grösser
und richtiger dieselben sind, desto vollkommener ist dasselbe §.
104. Zu der
genauesten Wahrheit eines Lehrgebäudes wird erfodert: 1) dass alle
Theile
desselben aufs genaueste richtig sind; 2) dass keiner [27] dem
andern widerspricht;
und 3) dass sie alle verbunden sind, indem ein jedweder entweder ein
Grund der übrigen, oder eine Folge, oder beides zu gleicher Zeit ist
§. 95. 96.
Weil es keine Wahrheit ausser den Lehrgebäuden giebt §. 96.
104, so muss
die gelehrte Erkenntniss systematisch sein, wenn sie anders vollkommen
richtig
sein soll.
§. 106. Alle Wahrheiten sind entweder bloss ästhetische
Wahrheiten
(veritates mere aestheticae), welche bloss schön erkannt werden
müssen, und
mit denen muss sich die gelehrte Erkenntniss niemals beschäftigen; oder
bloss
gelehrte (veritates mere eruditae), die nur auf eine gelehrte Art
erkannt werden
können, und mit denen allein muss sich die gelehrte Erkenntniss nicht
beschäftigen,
denn sie würde sonst bloss gelehrt sein §. 32; oder beides zugleich
(veritates aesthetico-eruditae), und die sind der vornehmste
Gegenstand einer
recht vollkommenen gelehrten Erkenntniss.
§. 107. Weil die Wahrheit nicht die einzige Vollkommenheit
der gelehrten
Erkenntniss ist, so kann ein Gelehrter niemals entschuldiget werden,
wenn er
sich bloss deswegen mit einer gelehrten Untersuchung beschäftiget, weil
sie
wahr ist. Es ist nicht gut, alle Wahrheiten zu denken und zu sagen.
§. 108. Ein jeder muss seine Hauptwissenschaft am
genauesten §. 102,
und im möglichsten Grade systematisch §. 105 zu erkennen suchen
§. 63.
§. 109. Der Irrthum (cognitio erronea, error) besteht
darin, wenn wir die
falsche Erkenntniss für wahr, und die wahre für falsch halten.
Folglich 1) ist
eine jede irrige Erkenntniss falsch §. 99; 2) ist nicht eine jede
falsche Erkenntniss
irrig, wenn wir nämlich erkennen, dass sie falsch sei §. 99; 3) aus
der falschen Erkenntniss entsteht der Irrthum. Hätten wir gar keine
falsche
Erkenntniss, so könnten wir auch keine Irrthümer haben. Der Irrthum
ist
schlimmer als die bloss falsche Erkenntniss, denn er ist ein [28]
verborgenes
Gift. Die gelehrte Erkenntniss kann also, auf eine dreifache Weise,
irrig sein
§. 103.
§. 110. Wenn wir die Regeln des 98sten Absatzes
übertreten, so entsteht
der Irrthum §. 109. Die erste Quelle aller Irrthümer ist
demnach die Unwissenheit
§. 41, wenn sich damit die Übereilung vereinbaret, vermöge welcher
wir
dasjenige leugnen, wovon wir keine Erkenntniss haben.
§. 111. Der Irrthum ist entweder ein vermeidlicher (error
vincibilis), oder
ein unvermeidlicher (error invincibilis). Jener entsteht aus einer
vermeidlichen,
und dieser aus einer unvermeidlichen Unwissenheit §. 43. Jener
ist
nur ein tadelnswürdiger Schandfleck der gelehrten Erkenntniss, dieser
aber kann
und darf nicht vermieden werden.
§. 112. Je weitläuftiger, wichtiger und fruchtbarer der
Irrthum ist, und
je leichter er hätte verhütet werden können, desto grösser ist er. Je
grösser
der Irrthum ist, desto mehr beschimpft er die gelehrte Erkenntniss, und
desto
sorgfältiger muss er verhütet werden. Folglich muss ein jeder
sonderlich die
Irrthümer in seiner Hauptwissenschaft zu verhüten suchen §.
108.
§. 113. Eine Erkenntniss ist offenbar falsch (cognitio
aperte falsa),
wenn ihre Unrichtigkeit bloss daher entdeckt wird, wenn man sie
betrachtet,
z.E. ein viereckichtes Dreieck. Muss man aber, um ihre Unrichtigkeit
zu entdecken,
eine weitläuftigere Untersuchung anstellen, so ist sie
versteckter Weise
falsch (cognitio cuius falsitas latet), z.E. die Materie kann
denken. Ein Irrthum,
durch welchen eine offenbar falsche Erkenntniss für wahr angenommen
wird,
ist ein abgeschmackter, ungereimter und dummer Irrthum (cognitio
absurda,
absona). Nicht alle Irrthümer sind Ungereimtheiten.
§. 114. Alle Wahrheiten sind entweder schlechterdings
nothwendige
(veritates absolute necessariae), [29] oder zufällige
Wahrheiten (veritates
contingentes). Bei jenen ist es ganz unmöglich, dass sie falsch sein
sollten,
z.E. es ist ein GOtt. Diese aber könnten auch falsch sein, z.E.
diese Welt
ist würklich. Weil der Irrthum bei jenen leichter zu vermeiden ist, so
ist er
grösser als der Irrthum in den zufälligen Wahrheiten §. 112.
Der fünfte Abschnitt,
von der Klarheit der gelehrten Erkenntniss.
§. 115. Ein Merkmal, ein Kennzeichen der Erkenntniss
und der Sachen
(nota, character cognitionis et rei) ist dasjenige in der
Erkenntniss oder den
Sachen, welches, wenn es erkannt wird, der Grund ist, weswegen wir uns
ihrer
bewusst sind; oder sie sind die Unterscheidungsstücke der Erkenntniss
und
ihrer Gegenstände. Wo also ein Bewusstsein ist, da werden Merkmale
erkannt
§. 13. Z.E. die Vernunft ist ein Merkmal des Menschen, und
der Erkenntniss.
die wir von demselben haben.
§. 116. Die Merkmale haben wiederum ihre Merkmale §.
115. Folglich
sind alle Merkmale einer Sache entweder unmittelbare Merkmale (notae
immediatae, proximae), oder mittelbare (notae mediatae, remotae).
Diese sind
Merkmale der Merkmale, jene aber nur Merkmale des Dinges,
ob sie gleich
keine Merkmale seiner Merkmale sind. Z.E. die Vernunft ist ein
unmittelbares
Merkmal des Menschen, weil aber die Vernunft ein
Vermögen ist, den Zusammenhang
der Dinge deutlich einzusehen, so ist das Vermögen ein mittelbares
Merkmal des Menschen. Auf den unmittelbaren Merkmalen beruhet das
Bewusstsein
§. 13.
§. 117. Die Merkmale sind entweder verneinende (notae
negativae) oder
bejahende (notae affirmativae, positivae). Durch jene
stellen wir uns etwas
als [30] abwesend in der Sache vor, und wir erkennen dadurch
nur was sie
nicht sei; z.E. die Unvernunft der unvernünftigen Thiere. Durch
diese stellen
wir uns etwas als gegenwärtig in der Sache vor, und wir erkennen
durch sie
was die Sache sei, z.E. die Vernunft der Menschen. Obgleich beide
Arten ein
Bewusstsein verursachen können, so sind doch die bejahenden bessere
Merkmale als die verneinenden.
§. 118. Die Merkmale sind entweder wichtigere (notae
graviores), oder
geringere Merkmale (notae leviores). Jene entdecken einen
grösseren, und
diese einen geringern Unterschied der Sache. Entweder fruchtbare
(notae
foecundae), oder unfruchtbare Merkmale (notae infoecundae).
Jene entdecken
einen vielfältigen Unterschied von vielen Dingen, diese aber nicht.
Die Vernunft ist ein wichtiges und fruchtbares Merkmal eines Menschen;
dass
er aber ein Ding ist, ein geringeres und unfruchtbareres. Je wichtiger
und fruchtbarer
demnach die Merkmale sind, desto mehr befördern sie das Bewusstsein.
§. 119. Da die Merkmale Gründe sind §. 115, so sind
sie entweder zureichende
Gründe des Bewusstseins, oder unzureichende Gründe §. 15.
Jene
sind zureichende (notae sufficientes), und diese unzureichende
Merkmale
(notae insufficientes). Jene sind bessere Merkmale als diese. Das
Vermögen
zu denken ist ein unzureichendes Merkmal eines Geistes, dass er aber
Verstand
hat, ein zureichendes.
§. 120. Die Merkmale sind entweder schlechterdings
nothwendige und
unveränderliche (notae absolute necessariae et invariabiles), oder
zufällige und
veränderliche Merkmale (notae contingentes et variabiles). Jene
sind so beschaffen,
dass ohne denselben die Sache nicht vorgestellt werden kann, z.E. die
Vernunft des Menschen; diese aber sind so beschaffen, dass ohne ihnen
[31]
die Sache doch vorgestellt werden kann, z.E. das würkliche Denken
des
Menschen. Jene sind bessere Merkmale als diese.
§. 121. Die Merkmale können in einer Sache entweder
vorgestellt werden,
ohne sie im Zusammenhange mit andern Sachen ausser ihr zu betrachten,
oder
nicht. Diese sind äusserliche Merkmale oder Verhältnisse (notae
externae,
relationes), z.E. die Herrschaft eines Menschen. Jene sind
innerliche Merkmale
(notae internae). Die letztern sind entweder nothwendig oder
zufällig §. 120.
Diese heissen zufällige Beschaffenheiten (modi), z.E. die
Gelehrsamkeit eines
Menschen. Jene sind entweder die Gründe aller übrigen Bestimmungen,
oder
nicht. Diese sind die Eigenschaften (attributa), z.E. das
Vermögen zu denken
bei einem Menschen. Jene heissen die wesentlichen Stücke
(essentialia), z.E.
die Vernunft des Menschen. Der Inbegriff aller wesentlichen Stücke
ist das
Wesen (essentia).
§. 122. Je mehr Merkmale wir von einer Sache erkennen, je
grösser diese
Merkmale sind, und je vollkommener wir die Merkmale erkennen, desto
grösser
und besser ist das Bewusstsein §. 13. Folglich verursachen die
bejahenden,
wichtigen, fruchtbaren, innerlichen, nothwendigen und zureichenden
Merkmale
ein grösseres und bessers Bewusstsein, als die ihnen entgegengesetzten
§. 117-121.
§. 123. Eine Vorstellung, in so ferne wir uns derselben
bewusst sind,
wird ein Gedanke genennet (cogitatio). Folglich ist nicht eine
jede Vorstellung
und Erkenntniss ein Gedanke. Und was von dem Bewusstsein erwiesen
worden,
gilt auch vom Denken §. 115. 116. 122.
§. 124. Eine Erkenntniss enthält entweder so viele
Merkmale, als zum
Bewusstsein erfodert werden, oder nicht. Jene ist eine klare
Erkenntniss
(cognitio clara), welche mit dem Gedanken, und der Erkenntniss,
welcher wir
uns bewusst sind, einerlei ist §. 123. Diese ist eine dunkele
[32] Erkenntniss
(cognitio obscura), welche also weder ein Gedanke, noch mit dem
Bewusstsein
verknüpft ist §. 123. Jene ist vollkommener als diese. Wenn wir
uns auf ein
Wort nicht besinnen können, und es scheint doch, als ob es uns vor dem
Munde
herumliefe; so haben wir alsdenn eine dunkele Vorstellung von demselben.
§. 125. Die dunkele Erkenntniss ist entweder schlechterdings
dunkel
(cognitio absolute obscura), oder beziehungsweise (cognitio
relative obscura).
Jene müsste so dunkel sein, dass es schlechterdings unmöglich wäre,
sie klar zu machen.
Keine wahre Erkenntniss ist schlechterdings dunkel, und man muss
demnach nichts für schlechterdings dunkel halten. Alle wahre dunkele
Erkenntniss
ist nur beziehungsweise dunkel, das ist, die Kräfte dieses oder
jenes
denkenden Wesens sind nicht zureichend, dieselbe klar zu machen. Und
alsdenn
ist entweder der Gegenstand vornehmlich an dieser Dunkelheit schuld,
oder der Mensch, dem die Erkenntniss dunkel ist. Jene ist die
Dunkelheit der
Sachen (cognitio obiective obscura), und diese die Dunkelheit in
dem Kopfe
desjenigen, dem die Erkenntniss so dunkel ist (cognitio subiective
obscura).
Z.E. die Sachen die zu weit von uns entfernet sind, oder zu klein
sind, sind
schuld, dass wir sie dunkel empfinden. Wem aber die Vernunftlehre dunkel
ist, der ist selbst daran schuld. Endlich ist eine dunkele Erkenntniss
entweder
ganz dunkel (cognitio totaliter obscura), wenn wir uns ihrer gar
nicht bewusst
sind, oder nur eines Theils (cognitio partialiter obscura), wenn
wir uns ihrer
bewusst und auch nicht bewusst sind zu gleicher Zeit. Alle unsere klare
Erkenntniss
ist uns allemal eines Theils dunkel, weil wir keine einzige Sache
völlig zu durchdenken vermögend sind.
§. 126. Ein Mensch kann erkennen, was der andere nicht
erkennt, und
es kann demnach der eine Merkmale erkennen, die dem andern unbekannt sind
§. 115. Folglich kann [33] der eine klar erkennen, was der
andere nur dunkel
erkennet §. 124. Man muss demnach nicht schliessen: 1) was mir
klar ist, das
ist auch andern klar; 2) was mir dunkel ist, das ist auch andern dunkel;
3) was mir jetzo klar ist, das wird mir auch künftig klar sein; 4)
was mir jetzo
dunkel ist, das wird mir auch künftig dunkel bleiben.
§. 127. Je mehr Merkmale uns unbekannt sind, die zum
Bewusstsein erfodert
werden, und je grössere Merkmale uns unbekannt sind, und je mehr Kraft
dazu
erfodert wird, eine Erkenntniss klar zu machen, desto grösser ist ihre
Dunkelheit.
Ehe also eine Erkenntniss klar werden kann, muss man ofte viele Zeit
und Mühe anwenden, ihre Dunkelheit zu vermindern.
§. 128. Weil wir viele klare Erkenntniss haben, deren
Merkmale wir
zwar erkennen §. 115, aber nicht klar; so sind würklich in unserer
Seele dunkele
Vorstellungen vorhanden, welche die Materialien ausmachen, aus denen die
Seele nach und nach ihre klare Erkenntniss zusammensetzt.
§. 129. Die Dunkelheit der Erkenntniss entsteht aus einer
dreifachen
Quelle: 1) wenn ein Mensch nicht Kräfte genung besitzt, um dieselbe
klar zu machen.
Dieser Mangel der Kräfte ist entweder nothwendig oder nicht, und in
dem letzten Falle hätte der Mensch die Kräfte entweder erlangen
sollen oder
nicht; 2) aus dem Mangel der Aufmerksamkeit, welcher entweder aus
einem
nothwendigen Mangel der Kräfte entsteht, oder weil wir auf eine gewisse
Erkenntniss
nicht Achtung geben dürfen, oder weil wir auf dieselbe nicht Achtung
geben, ob wir gleich sollten; 3) aus der
Unwissenheit solcher Sachen, ohne
denen eine gewisse Erkenntniss nicht klar werden kann, es mag nun diese
Unwissenheit nothwendig oder zufällig, lobenswürdig oder tadelnswürdig
sein
§. 43. 50. 51. Alle Dunkelheit der Erkenntniss ist demnach
entweder nothwendig
oder zufällig, lobenswürdig oder tadelnswürdig. Folglich muss man bei
[34] der
Verbesserung der Erkenntniss nur die zufällige und tadelnswürdige
Dunkelheit
zu vermeiden suchen; und die Dunkelheit, die bei dem einen nothwendig und
lobenswürdig ist, die kann bei dem andern zufällig und tadelnswürdig
sein.
§. 130. Die dunkele Erkenntniss 1) kann wahr sein, sie
kann aber auch
falsch sein §. 92. 93. Es ist demnach nicht eine jede dunkele
Erkenntniss
falsch; 2) ist keine gelehrte Erkenntniss, in so fern sie dunkel ist.
Sie ist in
der gelehrten Erkenntniss der Menschen ein unvermeidliches Übel.
§. 131. Diejenige Handlung, wodurch die Dunkelheit der
Erkenntniss
vermindert, und die Klarheit der Erkenntniss hervorgebracht und
vermehrt wird,
heisst die Auswickelung oder Entwickelung der Erkenntniss (evolutio,
explanatio cognitionis), gleichwie die entgegengesetzte Handlung die
Einwickelung
derselben (cognitionis involutio) genennet wird. Zu der erstern
wird a) vorläufig dreierlei erfodert: 1) man untersuche aufs
möglichste, ob die
Dunkelheit der Erkenntniss, die man entwickeln will, nothwendig oder
zufällig,
unverschuldet oder verschuldet sei. In dem letzten Falle dürfen wir
nur die
Entwickelung wagen. 2) Man untersuche, ob die Entwickelung
derselben zu
dem Horizonte unserer klaren Erkenntniss gehöre oder nicht. In dem
ersten
Falle ist diese Arbeit uns nur erlaubt. 3) Man untersuche, ob nicht
diese Entwickelung
eine anderweitige klare Erkenntniss voraussetze, ohne welche sie
nicht geschehen kann. Und befindet sich diese Sache in der That also,
so
muss man diese Arbeit nicht eher unternehmen, bis wir nicht diese
anderweitige
klare Erkenntniss erlangt haben §. 129. b) Zur Auswickelung
selbst wird
dreierlei erfodert: 1) man richte seine Aufmerksamkeit auf die Sache,
die man
klar erkennen will; 2) man vergleiche sie mit andern von ihr
verschiedenen
Sachen, damit man ihre Merkmale erkenne §. 115; 3) man
abstrahire von
allen übrigen Dingen, oder man verdunkele dieselben, indem [35] man
auf
den Gegenstand Achtung giebt. Je öfter, stärker und länger man auf
eine
Sache Achtung giebt, mit je mehrern Dingen man sie vergleicht, je
stärker man
von andern Dingen abstrahirt, desto besser und eher entwickelt sich die
Erkenntniss
derselben, und sollte man auch gleich*2 im Anfange einigemal diese
Arbeit vergeblich verrichten.
§. 132. Durch eine klare Erkenntniss sind wir entweder
vermögend, den
Gegenstand beständig und in allen Umständen, von allen möglichen
übrigen
Dingen, zu unterscheiden oder nicht. In dem ersten Falle ist unsere
Erkenntniss
ausführlich klar (cognitio complete clara), z.E. die
Vorstellung der rothen
Farbe; in dem andern aber unausführlich klar (cognitio incomplete
clara),
z.E. wenn wir zwar schmecken, dass ein Wein Rheinwein sei, wir
können aber
nicht schmecken, von was für einer Sorte er sei. Jene ist vollkommener
als
diese, weil diese mehr Dunkelheit enthält als jene §. 124, und wir
erlangen sie
durch die Erkenntniss der nothwendigen, unveränderlichen und
zureichenden
Merkmale §. 119. 120. 121.
§. 133. Wenn wir eine klare Erkenntniss haben, so sind wir
uns entweder
alles dessen bewusst, was in dem Gegenstande angetroffen wird, oder
nicht. Ist das erste, so ist die Erkenntniss ganz klar (cognitio
totaliter clara).
Ist das letzte, so ist sie nur eines Theils klar (cognitio
partialiter clara). Keine
menschliche klare Erkenntniss ist ganz klar §. 125, und eine
Erkenntniss kann
ausführlich klar sein, ob sie gleich nicht
ganz klar ist §. 132. Unterdessen ist
eine Erkenntniss um so viel vollkommener, je mehr sich ihre Klarheit der
gänzlichen Klarheit nähert §. 124.
§. 134. Je mehrere Merkmale wir erkennen, folglich von je
mehrern und
übereinstimmendern Dingen wir eine Sache unterscheiden können; je
grössere
Merkmale, und je besser wir alle Merkmale erkennen; je leichter wir uns
einer
Erkenntniss und ihres Gegenstandes bewusst sein können: desto klärer
ist
unsere Erkenntniss §. 124, und also [36] auch desto
vollkommener. Man muss
also, bei der Verbesserung einer Erkenntniss, den möglichsten Grad
ihrer
Klarheit zu erreichen suchen.
§. 135. Eine Erkenntniss, welche durch die Menge der
Merkmale klärer
ist, wird eine lebhafte Erkenntniss (cognitio extensive clarior,
vivida) genannt;
z.E. der melodiereiche Gesang der Nachtigall läuft tönend durch die
Thäler.
Welche aber durch die Grösse der Merkmale und ihre klärere
Vorstellung klärer
ist, die ist der Stärke nach klärer (cognitio intensive clarior).
Mit dem
letztern Grade der Klarheit beschäftiget sich nur die Vernunftlehre
§. 1. 17. 21.
§. 136. Wenn wir Merkmale der klaren Erkenntniss vergessen,
so kann
eine klärere Erkenntniss in eine weniger klare, und endlich in eine ganz
dunkele Erkenntniss verwandelt werden §. 124. Wer also der
Einwickelung der
klaren Erkenntniss vorbeugen will §. 131, der muss der Vergessenheit vorbeugen.
§. 137. Eine Erkenntniss, welche in Absicht auf die
Stärke der Klarheit
betrachtet wird, ist entweder deutlich, oder verworren §. 14.
135. In jener sind
auch die Merkmale klar, in dieser aber dunkel §. 14. 115.
124. Weil also die
Deutlichkeit eine vielfache Klarheit ist, so ist die deutliche
Erkenntniss vollkommener
als die verworrene §. 124.
§. 138. Weil alle gelehrte Erkenntniss deutlich ist §.
21. 17, so ist die
verworrene Erkenntniss, in so ferne sie verworren ist, nicht gelehrt
§. 137.
Gleichwie also die schönen Wissenschaften sich mit der Verbesserung
der verworrenen
Hälfte der menschlichen Erkenntniss beschäftigen, also muss ein
Gelehrter durch die Vernunftlehre die deutliche Hälfte derselben
verbessern.
Die Dunkelheit und Verwirrung ist in der gelehrten Erkenntniss ein
nothwendiges
Übel, welches man entweder auch nebenbei zu verbessern sucht oder
nicht. In dem letzten Falle entsteht eine bloss [37] gelehrte
Erkenntniss, und
in dem ersten eine gelehrte Erkenntniss, die zugleich schön ist §.
24.
§. 139. Die Handlung, wodurch ein gewisser Grad der
Deutlichkeit in
unserer Erkenntniss hervorgebracht wird, heisst die Zergliederung der
Erkenntniss
(resolutio, analysis, anatomia cognitionis). Eine Erkenntniss kann
zergliedert werden, wenn sie von irgends einem denkenden Wesen kann
deutlich gemacht werden (cognitio resolubilis). In so ferne sie
aber nicht
deutlich werden kann, in so ferne ist sie eine Erkenntniss, die nicht
zergliedert
werden kann (cognitio irresolubilis). Und alsdenn ist es entweder
ganz und
gar unmöglich, dass sie deutlich werde, oder sie kann nur durch die
Kräfte
dieses oder jenen denkenden Wesens nicht deutlich werden. Ist das erste,
so
kann sie schlechterdings nicht zergliedert werden (cognitio absolute
irresolubilis).
Ist das letzte, so kann sie nur beziehungsweise nicht zergliedert
werden (cognitio respective irresolubilis). Wenn eine wahre
Erkenntniss
schlechterdings nicht zergliedert werden könnte, so müssten ihre
Merkmale
schlechterdings dunkel sein §. 137. Da nun dieses unmöglich ist
§. 120, so ist
alle wahre Erkenntniss, welche nicht zergliedert werden kann, nur
beziehungsweise
so beschaffen.
§. 140. In so ferne wir von einer Sache eine deutliche
Erkenntniss haben,
in so ferne begreifen wir sie (concipere). Was deutlich erkannt
werden kann,
ist begreiflich (conceptibile). Was nicht deutlich erkannt werden
kann, ist
unbegreiflich (inconceptibile), entweder schlechterdings
(absolute inconceptibile),
wenn es schlechterdings nicht zergliedert werden kann; oder nur
beziehungsweise
(relative inconceptibile), wenn es beziehungsweise nicht zergliedert
werden
kann. Alle mögliche Dinge sind nur beziehungsweise unbegreiflich §.
139, und
was wir gelehrt erkennen, das begreifen wir in so ferne allemal §.
21. 17.
[38] §. 141. Was wir nicht begreifen, ist deswegen keine
ungereimte Sache
§. 140. Und da dem einen Menschen eine Erkenntniss deutlich
sein kann, die
dem andern verworren oder wohl gar dunkel ist §. 126; so muss man
nicht
schliessen: was wir nicht begreifen, das begreifen auch andere nicht; was
wir
begreifen, das begreifen auch andere; was ich jetzo begreife, werde ich
auch
künftig begreifen; was ich jetzo nicht begreife, werde ich auch
künftig nicht
begreifen. Diese Schlüsse gelten auch, wenn von der blossen
Möglichkeit oder
Unmöglichkeit die Rede ist.
§. 142. Wenn man eine Erkenntniss zergliedern will, so muss
man 1) sie
entwickeln §. 131, wenn sie nicht vorher schon in uns klar sein
sollte. 2) Man
muss die klare Erkenntniss durchdenken, oder ihre Merkmale nach und nach
entwickeln, nach §. 131. Je mehr Merkmale, und je bessere
Merkmale §. 116-121
man entwickelt, desto besser ist es. 3) Man überlege die entwickelten
Merkmale,
oder man stelle sie sich zusammen als Eine
Erkenntniss vor; sonst würden
wir den Gegenstand nur stückweise denken, und das ist noch keine
deutliche
Erkenntniss von dem ganzen Gegenstande. 4) Man stelle +W
stelle vor -W sich die entwickelten
Merkmale in eben dem Zusammenhange und in eben der Ordnung vor,
als sie
in dem Gegenstande sich befinden. Sonst stimmt +W stimmt überein -W die deutliche Erkenntniss
nicht mit dem Gegenstande überein, und alle Unordnung setzt uns
in Verwirrung.
5) Man muss alle übrige Sachen und Vorstellungen, die nicht mit
in Überlegung gezogen worden, verdunkeln, oder von ihnen abstrahiren;
damit
nicht die Erkenntniss alsbald wieder verworren werde.
§. 143. Je mehrere und grössere klare Merkmale wir von
einer Sache
erkennen, je besser wir die Merkmale erkennen, folglich je weitläuftiger, proportionirter,
richtiger, klärer, gewisser und praktischer: desto deutlicher ist
die Erkenntniss §. 137. 25-30.
[39] §. 144. Eine deutliche Erkenntniss ist entweder
ganz deutlich
(cognitio totaliter distincta), oder nur eines Theils (cognitio
partialiter distincta).
Jene enthält gar keine Dunkelheit und Verwirrung, diese aber enthält
dergleichen.
Keine menschliche deutliche Erkenntniss ist ganz deutlich §.
133. Sie ist aber
um so viel deutlicher, je näher ihre Deutlichkeit der gänzlichen
Deutlichkeit
kommt §. 142.
§. 145. Die Verwirrung der Erkenntniss entsteht, 1) aus
den Quellen der
Dunkelheit, denn sie besteht in der Dunkelheit der Merkmale §.
137. 129.
2) Aus dem nothwendigen oder zufälligen, lobenswürdigen oder
tadelnswürdigen
Mangel des Nachdenkens; desgleichen 3) der Überlegung; 4) aus dem
Mangel
der Ordnung im Denken, und 5) aus einem nothwendigen oder zufälligen,
lobenswürdigen oder tadelnswürdigen Mangel der Abstraction §.
142.
§. 146. Es giebt also nicht nur eine Verwirrung in aller
unserer Erkenntniss,
die wir schlechterdings nicht verhüten können; sondern es
giebt auch eine Verwirrung, die wir verhüten könnten, allein wir
dürfen nicht, weil
sie unter oder ausser unserm Horizonte angetroffen wird §. 146.
Ehe wir uns
also an die Zergliederung einer Erkenntniss wagen, müssen wir aufs
möglichste
vorher untersuchen, ob wir sie verrichten können oder dürfen.
§. 147. Die Merkmale einer deutlichen Erkenntniss sind klar
§. 137.
Also sind sie entweder deutlich oder verworren §. 137. In dem
ersten Falle
haben wir eine vollständige Erkenntniss (cognitio adaequata), in
dem andern
aber eine unvollständige (cognitio inadaequata), z.E. das
Laster ist eine erlangte
Fertigkeit zu sündigen. Eine erlangte Fertigkeit ist eine
Leichtigkeit
zu handeln, welche wir durch Übung erhalten haben, und wir sündigen,
wenn
wir böse freie Handlungen vornehmen. Dieses ist eine vollständige
Erkenntniss
des Lasters, sie würde aber [40] unvollständig sein, wenn ich keine
deutliche
Erkenntniss von der Fertigkeit und der Sünde hätte. Die
Vollständigkeit ist
eine vielfache Deutlichkeit, und also eine Vollkommenheit der
Erkenntniss
§. 137. Die Unvollständigkeit besteht in der Verwirrung der
Erkenntniss der
Merkmale, und also aus den Quellen der Verwirrung überhaupt §.
145. Je
mehr deutliche Merkmale eine Erkenntniss enthält, und je deutlicher sie
sind,
desto vollständiger ist die Erkenntniss. Und die vollkommenste
gelehrte Erkenntniss
muss so vollständig sein als möglich §. 21.
§. 148. Die Vollständigkeit entsteht aus der Zergliederung
der Merkmale
§. 147. 142. Je entfernter die Merkmale sind, die wir wieder
zergliedern, desto
vollständiger wird die Erkenntniss §. 116. 147. Ein
höherer Grad der Vollständigkeit
ist eine tiefsinnige Erkenntniss (cognitio profunda, purior). Und
indem wir eine Erkenntniss zergliedern, so bringen wir dieses
Geschäfte zu
Ende, wenn wir die Merkmale entdecken, die wir nicht weiter zergliedern
können. Wir bleiben aber in der
Zergliederung stehen, wenn wir Merkmale
nicht weiter zergliedern, die wir doch zergliedern könnten. Da es nun
eine
ekelhafte Arbeit sein würde, wenn wir die Zergliederung aller unserer
deutlichen
Erkenntniss allemal zu Ende bringen wollten; so müssen wir allemal
einen
vernünftigen Zweck haben, warum wir eine Erkenntniss zergliedern, und
so bald
wir denselben erreicht haben, so müssen wir vor diesmal diese Arbeit
unterbrechen. Es ist ohne dem unmöglich, dass ein Mensch alle
Unvollständigkeit
in seiner Erkenntniss vermeide §. 144.
§. 149. Die deutliche Erkenntniss ist entweder ausführlich
deutlich
(cognitio complete distincta) oder unausführlich (cognitio
incomplete distincta)
§. 132. Jene ist vollkommener als diese §. 132. Z.E.
wenn ich mir einen
Geist als ein Wesen vorstelle, welches denken kann, so habe ich eine
deutliche
aber unausführliche Erkenntniss von [41] demselben.
Stelle ich mir denselben
aber als ein Ding vor, welches Verstand hat, so ist meine
deutliche Erkenntniss
von einem Geiste zugleich ausführlich.
§. 150. Wenn man eine deutliche Erkenntniss von einer Sache
ausführlich
machen will, so muss man 1) diejenigen Merkmale zu entdecken suchen,
die ausser ihr in keinem andern Dinge angetroffen werden; oder 2) man
muss
so viele Merkmale entdecken, als zusammengenommen keinem andern Dinge
zukommen. Z.E. die Tugend ist eine Fertigkeit freier rechtmässiger
Handlungen.
Ob gleich ein jedes dieser Merkmale auch in Dingen angetroffen wird,
die keine Tugenden sind; so sind sie doch zusammengenommen in keiner
andern Sache befindlich. Und es macht demnach der Inbegriff dieser vier
Merkmale die deutliche Vorstellung der Tugend zu einer ausführlichen
deutlichen
Vorstellung.
§. 151. Eine deutliche Erkenntniss ist entweder eine
bestimmte (cognitio
determinata), oder eine unbestimmte Erkenntniss (cognitio
indeterminata).
Jene ist ausführlich deutlich, und enthält nicht ein einziges
Merkmal mehr,
als zur Ausführlichkeit schlechterdings nöthig ist. Z.E. ein Geist
ist ein
Wesen, welches Verstand hat. Diese enthält entweder zu wenig
Merkmale, und
das ist die unausführlich deutliche Erkenntniss §. 149; oder sie
enthält mehr
klare Merkmale, als zur Ausführlichkeit nöthig sind, und das ist eine
gar zu
weitläuftige Erkenntniss (cognitio nimis prolixa). Z.E. ein
Geist ist ein
denkendes Wesen, welches Verstand und freien Willen besitzt. Wenn man
also von einer ausführlich deutlichen Erkenntniss diejenigen Merkmale
absondert,
die entweder zur Ausführlichkeit nicht nöthig sind, oder die aus andern
Merkmalen
derselben Erkenntniss folgen, so wird sie bestimmt. Die Bestimmung
ist nur eine Vollkommenheit der bloss gelehrten Erkenntniss §. 24,
wenn man
dem schwachen tiefsinnigen Verstande des Menschen das Begreifen einer
Sache
erleichtern will.
[42] §. 152. Die allervollständigste Erkenntniss kann
nach und nach
weniger vollständig, unvollständig, verworren, und endlich ganz dunkel
werden,
wenn um der Vergessenheit willen die klare Erkenntniss dunkel wird §.
136.
Wer also diesem Verluste der Vollkommenheiten vorbeugen will, der muss
die
Vergessenheit zu verhüten suchen. Wir Menschen sind niemals in dem
Besitze
unserer Vollkommenheiten ganz sicher, und wir müssen also überall
fleissig auf
unserer Hut stehen.
§. 153. Wer die gelehrte Erkenntniss in Absicht auf ihre
Klarheit recht
vollkommen machen will, der muss den Grad der Klarheit, der Grösse der
Gegenstände, proportioniren §. 70. Folglich je weitläuftiger
und grösser der
Gegenstand ist, durch je mehrere, bessere und grössere Arten und Grade
der
Klarheit muss die gelehrte Erkenntniss desselben erleuchtet werden. In
dem
gegenseitigen Falle muss man sich, in dieser Sache, auch gegenseitig
verhalten.
§. 154. Ein jeder Gelehrter muss, wenn es ihm sonst möglich
ist, zu
seiner Hauptwissenschaft denjenigen Theil der Gelehrsamkeit erwählen,
welcher
der mannigfaltigsten und grössten Klarheit fähig ist; und ein jeder
muss in
seiner Hauptwissenschaft die allerklärste Erkenntniss zu erlangen
suchen §. 63.
64. Er muss also ein heller Kopf sein, oder die klärsten
Wahrheiten vorzüglich
lieben, und beständig so klar denken als möglich. Ein finsterer Kopf
verdient kaum den Namen eines Gelehrten.
Der sechste Abschnitt,
von der Gewissheit der gelehrten Erkenntniss.
§. 155. Die Gewissheit (certitudo subiective spectata)
ist das Bewusstsein
der Wahrheit, oder die klare Erkenntniss der Wahrheit §. 29.
Will man also
eine gewisse gelehrte Erkenntniss besitzen, so muss sie nach den Regeln
des
vierten [43] Abschnitts wahr, und nach den Regeln des fünften
Abschnitts auf
die gehörige Art klar sein.
§. 156. Wenn wir weder klar erkennen, dass etwas wahr, noch
dass es
falsch sei, so ist unsere Erkenntniss von demselben ungewiss (incertitudo).
Die Ungewissheit ist also nur als eine Unvollkommenheit in unserer
Erkenntniss
anzutreffen. Eine Erkenntniss, die uns nicht ungewiss ist, ist entweder
gewiss
wahr (certo vera cognitio), wenn wir uns ihrer Wahrheit bewusst
sind, oder
gewiss falsch (certo falsa cognitio), wenn wir uns ihrer
Unrichtigkeit bewusst
sind §. 155.
§. 157. Alle Gewissheit ist entweder eine deutliche oder
eine verworrene
Erkenntniss der Wahrheit §. 155. 137. Diese ist die
sinnliche Gewissheit
(certitudo sensitiva), und wenn sie in einem höhern Grade
vollkommen ist, die
ästhetische (certitudo aesthetica). Jene ist die vernünftige
Gewissheit (certitudo
rationalis), und wenn sie in einem höhern Grade vollkommen ist,
heisst
sie die logische oder gelehrte (certitudo logica, erudita). Keine
menschliche
gewisse Erkenntniss kann bloss vernünftig und gelehrt sein §.
144.
§. 158. . Die vernünftige Gewissheit ist entweder eine
vollständige Gewissheit
(certitudo adaequata), wenn wir von den Kennzeichen der Wahrheit
wiederum vernünftig gewiss sind; oder eine unvollständige (certitudo
inadaequata),
wenn wir von den Kennzeichen der Wahrheit nur sinnlich gewiss sind
§. 157. 147. Z.E. was denkt, ist würklich, ich denke,
also bin ich würklich.
Weil ich von dem ersten Satze eine deutliche Gewissheit habe, so bin
ich in so ferne
von dem letzten Satze vollständig gewiss. Weil mir der andere Satz
aber nur sinnlich gewiss ist, so ist mir der letzte Satz in so ferne nur
unvollständig
gewiss.
§. 159. Die Gewissheit ist entweder eine ausführliche
(completa certitudo),
oder eine unausführliche [44] Gewissheit (incompleta
certitudo) §. 132. 149.
Die bestimmte Gewissheit (certitudo determinata) ist eine
ausführliche Gewissheit,
die nicht mehr Kennzeichen der Wahrheit enthält, als zur ausführlichen
Gewissheit unentbehrlich sind §. 151.
§. 160. Durch die ausführliche Gewissheit wird das
Gemüth allemal dergestalt
beruhiget, dass es über alle vernünftige Furcht des Gegentheils
erhöhet
wird; die unausführliche Gewissheit aber kann diese vernünftige Furcht
nicht
ganz vertreiben §. 159. Unterdessen kann ein Mensch ofte von
aller Furcht
des Gegentheils befreiet, und dem ohnerachtet nicht einmal überhaupt
gewiss
sein.
§. 161. Die bestimmte Gewissheit, wenn sie überdies so
vollständig ist,
als möglich, ist die mathematische Gewissheit (certitudo
mathematica).
§. 162. Wir haben von einer Sache eine gänzliche
Gewissheit (certitudo
totalis), wenn uns alles gewiss ist, was wir von derselben erkennen;
ist uns
aber nicht alles dieses gewiss, so ist uns die Sache nur eines Theils
gewiss
(certitudo partialis).
§. 163. Eine gewisse Erkenntniss wird genannt, 1)
überzeugend (cognitio
convincens), in so ferne sie ausführlich gewiss ist, und die
Hervorbringung
einer solchen gewissen Erkenntniss heisst die Überzeugung
(convictio);
2) unleugbar (cognitio evidens, indubitata), in so ferne wir klar
erkennen, dass
dasjenige, wovon wir überzeugt sind, unmöglich falsch sein könne; 3)
gründlich
(cognitio solida), in so ferne die Gewissheit vollständig ist;
oder auch wenn sie
so gross und von der Art ist, als erfodert wird.
§. 164. Je mehr Sachen wir gewiss erkennen, und je mehr wir
von einem
jedweden Gegenstande gewiss erkennen; je grösser die Sachen sind, die
wir
gewiss erkennen, und je klärer wir die Wahrheit erkennen: desto grösser
ist
die Gewissheit §. 155. Wer also die gelehrte Erkenntniss
[45] recht verbessern
will, der muss sie so gewiss machen als es möglich ist, indem er die
Gewissheit
von allen Arten, und in einer jedweden Art den grössten Grad der
Gewissheit
hervorbringt, so viel als es nämlich die übrigen Regeln der
Vollkommenheit
der gelehrten Erkenntniss verstatten.
§. 165. Wir müssen nicht schliessen: 1) Was mir gewiss
ist, das ist
auch andern Leuten gewiss, und umgekehrt §. 126. 2) Was mir
ungewiss ist,
das ist, an sich betrachtet, ungewiss, oder wohl gar falsch §.
156. 3) Was mir
ungewiss ist, das ist auch andern Leuten ungewiss, und umgekehrt §.
126.
4) Was mir jetzo gewiss ist, das wird mir künftig allemal auch gewiss
bleiben
§. 126. 5) Was mir jetzo ungewiss ist, das wird mir auch
künftighin allemal
ungewiss bleiben §. 126. 6) Wenn nicht alles in einem
Gegenstande gewiss
ist, so hat derselbe gar keine Gewissheit §. 162.
§. 166. Weil wir einige Arten, sonderlich der logischen
Gewissheit, nur
nach und nach erlangen, so muss man theils nicht verdriesslich werden,
wenn
die Gewissheit nicht so geschwinde erfolgen will, als wir manchmal
wünschen;
theils muss man misstrauisch sein, wenn wir etwa in einem Falle gar zu
geschwinde
gewiss geworden sind, ob man etwa nicht etwas versehen habe. Man
muss, in der Erlangung der Gewissheit, langsam eilen.
§. 167. Wenn eine Erkenntniss nicht von der Art und in dem
Grade
gewiss ist, als sie sein könnte und sollte, so wird sie eine seichte
Erkenntniss
genannt (cognitio superficiaria).
§. 168. Wir geben einer Erkenntniss unsern Beifall, oder
wir nehmen
sie an (assentiri, ponere aliquid) wenn wir sie für wahr
halten; wir verwerfen
sie (tollere aliquid), wenn wir sie für falsch halten; und wir
halten unsern
Beifall zurück (suspendere iudicium), wenn wir keins von
beiden thun. Wenn
wir eine ungewisse Erkenntniss annehmen oder verwerfen, so thun wir
dieses
entweder, weil wir einige Kennzeichen der Richtigkeit oder
Unrichtigkeit [46]
erkennen, oder wir erkennen gar keine dieser Kennzeichen. In dem
letzten
Falle übereilen wir uns (praecipitantia), und die ungewisse
Erkenntniss, die
wir aus Übereilung annehmen oder verwerfen, ist eine erbettelte
Erkenntniss,
ein Vorurtheil, eine vorgefasste Meinung (praecaria cognitio,
praeiudicium,
praeconcepta opinio). Die erbettelte Erkenntniss ist gar keine
gelehrte Erkenntniss
§. 21. 17, und alle Vorurtheile können in der gelehrten
Erkenntniss vermieden
werden, und sie sind demnach ein unverantwortlicher Schandfleck
derselben.
§. 169. Weil die Richtigkeit und Unrichtigkeit der Sachen
nicht von
unseren Einsichten abhanget, so kann 1) dasjenige, was wir durch ein
Vorurtheil
annehmen, falsch, und was wir durch ein Vorurtheil verwerfen, wahr
sein. 2) Dasjenige, was wir durch ein Vorurtheil annehmen, kann in der
That
wahr, und was wir durch ein Vorurtheil verwerfen, kann würklich falsch
sein.
3) In einem jedweden Vorurtheile steckt allemal was Irriges und
Falsches, weil
wir gewiss zu sein glauben, da wir doch nicht gewiss sind §. 168.
§. 170. Ein logisch Vorurtheil (praeiudicium logicum)
ist ein Vorurtheil,
wodurch die Vollkommenheit der gelehrten Erkenntniss, sonderlich die
Gründlichkeit
derselben gehindert wird. Zum Exempel: a) das Vorurtheil des gar
zu grossen Zutrauens (praeiudicium nimiae confidentiae), wenn man
auf eine
übereilte Art etwas für logisch vollkommen hält. 1) Das Vorurtheil
des gar
zu grossen Ansehens (praeiudicium autoritatis), wenn wir etwas
annehmen
oder verwerfen, weil es ein Mensch annimmt und verwirft, den wir so sehr
ehren, dass wir ihn für nachahmungswürdig halten. 2) Die logische
Egoisterei
(egoismus logicus), wenn jemand deswegen etwas für logisch
vollkommen hält,
weil er selbst der Urheber davon ist. 3) Das Vorurtheil des
Alterthums
(praeiudicium antiquitatis), wenn wir etwas für wahr halten, weil
[47] es eine
alte Meinung ist. 4) Das Vorurtheil der Neuigkeit (praeiudicium
novitatis),
wenn wir etwas für wahr halten, weil es eine neue Meinung ist. 5) Das
Vorurtheil
des angenommenen Lehrgebäudes (praeiudicium systematis), wenn
man etwas bloss annimmt, weil es unserm Lehrgebäude gemäss, und
verwirft,
weil es demselben zuwider ist. 6) Das Vorurtheil des faulen
Vertrauens
(praeiudicium pigritiae), wenn man durch einen geringern Fleiss
eben so weit
in der gelehrten Erkenntniss zu kommen glaubt, als durch einen grössern.
7) Das Vorurtheil der Seichtigkeit (praeiudicium corticis),
wenn man
glaubt, dass man mit einer seichten Erkenntniss eben so weit kommen
könne als mit einer gründlichen. b) Das Vorurtheil des gar zu
grossen
Misstrauens (praeiudicium nimiae diffidentiae), wenn man auf eine
übereilte
Art etwas für logisch unvollkommen hält. 1) Das Vorurtheil des
Alterthums
(praeiudicium antiquitatis), wenn man etwas verwirft, weil es alt
ist. 2) Das
Vorurtheil der Neuigkeit (praeiudicium novitatis) wenn man etwas
verwirft,
weil es neu ist. 3) Das Vorurtheil der Völkerschaft
(nazarethismus), wenn
man etwas verwirft, weil es von einem gewissen Volke herstammt. 4) Das
Vorurtheil des Misstrauens, welches man auf sich selbst setzt
(praeiudicium
nimiae diffidentiae in se ipsum positae), wenn man sich selbst
zu wenig zutrauet
u.s.w.
§. 171. Wenn wir eine ungewisse Erkenntniss, um einiger
Kennzeichen der
Richtigkeit und Unrichtigkeit willen, annehmen oder verwerfen §.
168, so erkennen wir
entweder mehrere und stärkere Gründe, sie anzunehmen, als sie zu
verwerfen, und
alsdenn ist unsere Erkenntniss wahrscheinlich (cognitio probabilis,
verosimilis);
oder wir erkennen mehrere und stärkere Gründe sie zu verwerfen, als
anzunehmen,
und also haben wir eine unwahrscheinliche Erkenntniss (cognitio
improbabilis); oder die Gründe sind [48] auf beiden Seiten
einander gleich,
und alsdenn ist es eine zweifelhafte Erkenntniss (cognitio dubia).
Z.E.
Es ist wahrscheinlich, dass die Planeten bevölkert sind, es ist aber
unwahrscheinlich,
dass es die Sonne sei. So ofte wir zu keinem Entschlusse kommen
können, so ofte haben wir eine zweifelhafte Erkenntniss.
§. 172. Weil die Menschen so unendlich in ihrer Erkenntniss
von einander
verschieden sind, so kann der eine eine Sache durch ein Vorurtheil
annehmen
oder verwerfen, die der andere für ganz gewiss wahr, der dritte für
ganz gewiss falsch, der vierte für wahrscheinlich, der fünfte für
unwahrscheinlich,
und der sechste für zweifelhaft hält. Der erste handelt allemal
unrecht.
Die beiden folgenden können unmöglich beide Recht oder Unrecht haben.
Die
drei letzten aber können alle zusammen Recht haben §. 159.
168. 171.
§. 173. Die Wahrscheinlichkeit, Unwahrscheinlichkeit und
Zweifelhaftigkeit
sind Ungewissheiten §. 171, und also nicht in den Gegenständen
unserer Erkenntniss
befindlich §. 156. Die allerwahrscheinlichsten Dinge können
falsch,
und die unwahrscheinlichsten wahr sein.
§. 174. Die Vorurtheile muss man weder für wahr noch für
falsch halten
§. 168, so wie auch die zweifelhafte Erkenntniss §. 171.
Die unwahrscheinliche
Erkenntniss muss man für falsch, und die wahrscheinliche für wahr
halten,
doch beides unter einer beständigen Furcht des Gegentheils §.
171. Der ausführlich
gewissen Erkenntniss müssen wir unsern Beifall mit der grössten
Zuversicht
geben, ohne das Gegentheil zu befürchten §. 159.
§. 175. Je mehrere und grössere Gründe wir erkennen,
etwas anzunehmen,
je wenigere und kleinere Gründe wir erkennen, es zu verwerfen, je besser
wir
jene und je schlechter wir diese erkennen: desto grösser ist die
Wahrscheinlichkeit,
und desto grösser die Unwahrscheinlichkeit des Gegentheils §.
171. Ein
so grosser Grad der Wahrscheinlichkeit, [49] welcher in unserm
regelmässigen
Verhalten so gut ist, als eine ausführliche Gewissheit, wird die
moralische
Gewissheit genannt (certitudo moralis).
§. 176. Wenn wir etwas für wahr oder für falsch halten, so
nennet man
eine jedwede Erkenntniss eines Grundes zum Gegentheil, einen Zweifel
(dubium).
Die Zweifel werden entweder auf eine bloss dunkele und undeutliche
Weise
erkannt, oder auf eine vernünftige und gelehrte Art. Die erstern
heissen Scrupel
(scrupulus), und die andern Einwürfe (obiectio).
§. 177. Alle Zweifel sind entweder wahre Zweifel (dubium
verum), oder
falsche (dubium falsum) §. 176. 92. 93, welche, wenn sie
wahr zu sein scheinen,
einen grossen Schein haben. Wenn man das Unrichtige in einem falschen
Zweifel klar erkennet, so wird der Zweifel aufgelöst oder beantwortet
(dubium
resolvitur, seu ad dubium respondetur). Alle Zweifel sind entweder
beantwortlich
oder unbeantwortlich, und beides entweder schlechterdings oder
beziehungsweise
(dubium absolute et respective resolubile aut irresolubile).
Folglich 1) können wider alle Wahrheiten Zweifel erregt werden, und
es ist
deswegen nichts falsch, weil Zweifel dawider erregt werden; 2) wider
eine
Wahrheit können Zweifel erregt werden, die diesem oder jenem Menschen
unbeantwortlich
sind; 3) wider keine Wahrheit können schlechterdings unbeantwortliche
Zweifel erregt werden. Ausgemachte Wahrheiten (veritates
indubitatae,
extra omnem dubitationis aleam positae) sind entweder
solche Wahrheiten,
die ausführlich gewiss sind; oder wider welche keine andere Zweifel
erregt werden können, als die beantwortlich sind, und schon beantwortet
worden.
Wahrheiten, die nicht ausgemacht sind, sind unausgemachte Wahrheiten
(veritates
non indubitatae).
§. 178. Zur völligen Überzeugung von einer Wahrheit 1)
wird nicht erfodert,
dass die unbekannten Zweifel [50] wider dieselbe beantwortet werden;
auch nicht 2) dass die Scrupel beantwortet werden, denn sie verdienen
gar
keine Antwort; 3) auch nicht dass alle bekannten Zweifel beantwortet
werden,
es können sogar unter denselben einige sein, welche einem Menschen
unbeantwortlich
sind, und der dem ohnerachtet völlig überzeugt werden kann; 4) wird
erfodert, dass alle Zweifel, welche das Gemüth wankend machen,
beantwortet
werden; 5) die Beantwortung der Zweifel gereicht allemal zur
Vermehrung der
Gewissheit, und zur Befestigung in der Überzeugung §. 176.
§. 179. Die Ungewissheit der Erkenntniss entsteht 1) aus
der Einschränkung
unserer Erkenntnisskraft, an welcher wir entweder schuld oder nicht
schuld sind; 2) aus dem Mangel der gehörigen Aufmerksamkeit des
Nachdenkens,
des Fleisses und der Geduld §. 129. 145, welcher entweder
nothwendig oder
zufällig, tadelnswürdig oder lobenswürdig sein kann; 3) aus einer
nothwendigen
oder zufälligen, lobenswürdigen oder tadelnswürdigen Unwissenheit
solcher
Wahrheiten, ohne deren Erkenntniss uns eine andere Wahrheit nicht
gewiss
werden kann §. 43. 50. 51; 4) aus einer gar zu starken
Aufmerksamkeit auf
die Zweifel §. 176.
§. 180. Es giebt in der menschlichen Erkenntniss eine
Ungewissheit 1) welche
ganz unvermeidlich ist, und die uns weder zur Schande noch zur Ehre
gereicht;
2) welche wir nicht vermeiden dürfen, wenn wir
gleich könnten, weil ihr Gegenstand
ausser unserm Horizonte, oder unter demselben angetroffen wird, und die
gereicht einem Menschen zur Ehre; 3) welche ein Mensch vermeiden kann
und
soll, weil die entgegengesetzte Gewissheit in seinen Horizont gehört
§. 178.
Diese letzte gereicht uns allemal zur Schande, und wer seine gelehrte
Erkenntniss
aufs möglichste verbessern will, der muss nur alle Ungewissheit der
dritten
Art zu vermeiden suchen.
[51] §. 181. Eine Meinung (opinio) ist eine
jedwede ungewisse Erkenntniss,
in so ferne wir sie annehmen, und zugleich erkennen, dass sie nicht gewiss
sei. Eine Meinung wird entweder als ein Grund angenommen, aus welchem
wir die Erscheinungen in der Welt erklären, oder nicht. Die letzte ist
eine gemeine Meinung (opinio vulgaris). Die erste ist eine
philosophische
oder gelehrte Meinung (hypothesis philosophica, erudita), z.E.
wenn man
den Ausfluss einer magnetischen Materie annimmt, um daher zu erklären,
wie
der Magnet das Eisen an sich zieht.
§. 182. Alle Meinungen 1) haben die Natur aller
ungewissen Erkenntniss
an sich; 2) die gemeinen Meinungen sind, wenigstens in der gelehrten
Erkenntniss,
ganz und gar zu verachten; 3) es ist nicht allen eine Meinung, was
einigen
eine Meinung ist; 4) aus den gelehrten Meinungen muss man nicht
zu viel
Wesens machen, denn sie gehören zu der unvollkommenern Hälfte der
gelehrten
Erkenntniss; 5) man muss sie nicht ganz verachten, weil sie der
Übergang von
der historischen Erkenntniss zu der völlig gewissen gelehrten
Erkenntniss sind
§. 181.
§. 183. Bei den gelehrten Meinungen muss man folgende
Regeln beobachten:
1) man muss keine gelehrte Meinung für gewiss wahr halten, und für
dieselbe nicht so viel Eifer beweisen, als für gewisse Wahrheiten. 2)
Man muss
sie nur im Nothfalle annehmen, wenn wir noch keine bessere gelehrte
Erkenntniss
haben können. 3) Man muss keine offenbar falsche Meinung annehmen,
welche entweder innerlich unmöglich ist, oder einer andern unleugbaren
Wahrheit widerspricht, oder den Erscheinungen widerspricht. Eine
Erscheinung
widerspricht deswegen einer Meinung nicht, weil wir sie
nicht daraus herleiten können. 4) Man muss bereit sein, die
allerartigste
und gelehrteste Meinung fahren zu lassen , so bald man ihre
Unrichtigkeit
entdeckt. 5) Man muss eine gelehrte Meinung nicht eher [52]
annehmen,
ehe man sie nicht zu einiger Wahrscheinlichkeit gebracht hat. Man muss
also,
unter andern, die meisten Erscheinungen aus ihr erklären können. 6)
Man
muss sich beständig bemühen, eine Meinung in eine gewisse Erkenntniss
zu
verwandeln. 7) Man muss keine gar zu grosse Neigung zu Meinungen
haben,
und deren nicht gar zu viele erfinden. 8) Man muss eine Meinung nicht
deswegen
für wahr halten, weil sie neu, artig, wunderbar, unschädlich, erbaulich
ist, und viel Mühe, Gelehrsamkeit, Witz und Scharfsinnigkeit erfodert
hat, ehe
sie erfunden worden.
§. 184. Die Gewissheit und Überzeugung sind entweder
wahr, oder bloss
scheinbar. Der Irrthum, durch welchen wir überzeugt zu sein uns
einbilden,
da wir doch nicht überzeugt sind, wird die Überredung im bösen
Verstande
genannt (persuasio malo significatu). Da durch dieselbe die
Gewissheit der gelehrten
Erkenntniss gehindert wird, so muss man sie aufs möglichste zu
verhüten
suchen. Sie entsteht aber: 1) aus der Unwissenheit der Regeln der
Vernunftlehre; 2) aus dem Mangel einer gewissen Erkenntniss, denn
alsdenn
weiss man noch nicht, wie es uns bei einer wahren Überzeugung zu Muthe
ist; 3) aus Vorurtheilen §. 169. 170. 171; 4) aus einer
gar zu grossen Nachlässigkeit
und Eilfertigkeit. In so ferne es nun in dem Vermögen eines Menschen
steht, diese Ursachen der Überredung aus dem Wege zu räumen,
in so ferne
ist er auch im Stande, diesen Fehler selbst zu vermeiden.
§. 185. Wenn man nun die Überredung verhütet, und zu einer
gründlichen
Überzeugung gelanget; so erlangt man eine Wissenschaft (scientia
subiective
spectata), das ist, eine gelehrte Erkenntniss, in so ferne sie
ausführlich
gewiss ist.
§. 186. Je grösser, wichtiger und fruchtbarer der
Gegenstand unserer
gelehrten Erkenntniss ist, desto gewisser muss unsere Erkenntniss sein
§. 70,
das ist, wir müssen die Erkenntniss desselben nach den meisten und
besten
Arten der [53] Gewissheit, und in den höchsten Graden derselben
gründlich zu
machen suchen. Bei den kleinern Gegenständen verhält es sich gerade
umgekehrt.
§. 187. Ein jeder muss sich nicht nur, zu seiner
Hauptwissenschaft, denjenigen
Theil der Gelehrsamkeit erwählen, welcher der grössten Gewissheit
fähig
ist, so viel ihm sonst möglich ist; sondern er muss auch seine erwählte
Hauptwissenschaft,
zu dem möglichsten Grade der Gewissheit, zu erhöhen suchen
§. 63. 64.
§. 188. Die ausführliche Gewissheit besteht in dem
Bewusstsein der
Wahrheit §. 155, folglich dass sie möglich und gegründet sei
§. 94. 96, so dass
keine Furcht des Gegentheils übrig bleibt §. 160. Folglich
sind wir uns alsdenn
bewusst, dass das Gegentheil falsch, unmöglich und unbegründet sei
§. 95. 97.
Folglich entsteht die ausführliche Gewissheit aus dem Bewusstsein der
Nothwendigkeit
der Wahrheit §. 114.
§. 189. Die ausführliche Gewissheit entsteht entweder
daher, dass wir
klar erkennen, die Wahrheit sei schlechterdings nothwendig, oder dass sie
nur
in dieser Welt nothwendig sei §. 113. Erkennen wir das erste
mathematisch
gewiss, so besteht darin die mathematische Gewissheit vom ersten Range
(certitudo mathematica primi ordinis). In dem andern Falle haben
wir die
mathematische Gewissheit vom andern Range (mathematica certitudo
secundi
ordinis), z.E. bei unsern Erfahrungen.
§. 190. Das Bewusstsein der Zufälligkeit der Wahrheit
verursacht die Ungewissheit,
und höchstens nur eine unausführliche Gewissheit §. 189.
113.
Willkürliche Wahrheiten (hypothesis) sind diejenigen, deren
Wahrheit von
dem Willkür der Menschen abhanget, und ihre Willkürlichkeit hindert
die
völlige Gewissheit von ihnen nicht.
§. 191. Der Beweis (probatio) ist dasjenige, was zu
einer Wahrheit hinzugethan
wird, damit sie gewiss [54] werde. Der Beweisthum (probatio
materialiter
sumta, ratio probans) ist der Grund, aus welchem die Wahrheit klar
erkannt werden kann, und das sind die Kennzeichen der Wahrheit §.
94. Die
Folge des Beweises (probatio formaliter sumta, consequentia) ist
der Zusammenhang
der Wahrheit mit dem Beweisthum §. 15. Ein jeder Beweis besteht
demnach aus dem Beweisthum und der Folge, und er kann entweder eine
ausführliche
oder eine unausführliche Gewissheit verursachen §. 159. Ist das
erste,
so heisst er ein zureichender Beweis oder eine Demonstration (probatio
sufficiens, demonstratio); ist das andere, so ist er ein unzureichender
Beweis
(probatio insufficiens). Von dem letztern wird in der
Vernunftlehre der wahrscheinlichen
Erkenntniss ausführlich gehandelt.
§. 192. Die Erkenntniss einer Wahrheit ist entweder eine
erweisliche
(cognitio demonstrabilis), oder eine unerweisliche Erkenntniss
(cognitio indemonstrabilis).
Diese wird uns gewiss so bald wir sie deutlich erkennen, jene
aber nicht. Diese ist ohne Beweis völlig gewiss, jene aber nicht. Man
hüte
sich, dass man weder die erbettelte Erkenntniss noch die erweisliche für
unerweislich
halte §. 168.
§. 193. Wenn wir die ausführliche Gewissheit von einer
Wahrheit durch
den Beweis und aus demselben erlangen wollen, oder wenn ein Beweis eine
Demonstration sein soll, §. 191; so muss 1) ein jeder Beweisthum,
welcher in
dem Beweise enthalten ist, ausführlich gewiss sein. Es müssen demnach
alle
erweislichen Beweisthümer so lange wieder erwiesen werden, bis man auf
lauter
unerweisliche Beweisthümer kommt; 2) die Folge ausführlich gewiss
sein §. 191.
Ausser diesen beiden Stücken wird nichts weiter zu einem Beweise
erfodert,
wenn er eine Demonstration sein soll §. 15.
§. 194. Wenn 1) auch nur ein einziger Beweisthum in einem
Beweise
falsch, oder 2) ungewiss ist, 3) eine [55] einzige Folge in dem
Beweise falsch,
oder 4) ungewiss ist, oder 5) wenn mehrere dieser Fehler zugleich
in einem
Beweise angetroffen werden, so kann er keine Demonstration sein §.
193.
§. 195. Gleichwie jemand einen unzureichenden Beweis für
eine Demonstration
halten kann, also kann auch jemand eine Demonstration für einen
unzureichenden
Beweis, oder wohl gar für einen falschen Beweis halten §. 165.
Folglich muss man eine Demonstration deswegen überhaupt nicht
verwerfen,
weil sie auf unser Gemüth nicht die gehörige Würkung thut.
§. 196. Durch eine Demonstration suchen wir entweder gewiss
zu werden,
dass etwas wahr, oder dass etwas falsch sei §. 191. 156. In
dem ersten Falle
kann man eine Wahrheit auf eine zweifache Art demonstriren: 1)
unmittelbarer Weise
(demonstratio directa, ostensiva), wenn wir die Wahrheit aus ihren
Kennzeichen herleiten; 2) mittelbarer Weise (demonstratio
indirecta, apogogica,
deductio ad absurdum), wenn wir die Unrichtigkeit ihres Gegentheils
demonstriren,
und daraus ihre Wahrheit schliessen. Eben so kann man demonstriren,
dass etwas falsch sei, oder es widerlegen (refutatio), a)
mittelbarer Weise
(refutatio mediata), wenn wir die Wahrheit seines Gegentheils
demonstriren;
b) unmittelbarer Weise (refutatio immediata), wenn wir die
Unrichtigkeit desselben
aus ihren Kennzeichen herleiten. Man kann aber beweisen, dass etwas
falsch sei: α) wenn wir beweisen, dass es unmöglich und
ungegründet, β) dass
es andern unleugbaren Wahrheiten zuwider sei, und γ) dass
aus ihm was
Falsches folge.
§. 197. Eine Demonstration verursacht entweder eine deutlich
oder undeutlich
ausführliche Gewissheit §. 191. 188. Diese sind die
ästhetische Demonstrationen
(demonstratio aesthetica), jene aber die logischen, philosophischen
und gelehrten (demonstratio logica, philosophica, [56]
erudita). Eine logische
Demonstration, welche eine mathematische Gewissheit verursacht, ist eine
mathematische Demonstration (demonstratio mathematica) §.
161.
§. 198. Wir können allemal schliessen: 1) wenn der ganze
Beweis richtig
und gewiss ist, so ist auch die erwiesene Sache richtig und gewiss; 2)
wenn
die erwiesene Sache falsch und ungewiss ist, so ist in dem Beweise ein
Fehler
§. 194. Wir können aber nicht schliessen: 1) wenn der Beweis
falsch ist, so
ist auch die erwiesene Sache falsch; 2) wenn der Beweis ungewiss ist,
so ist
die bewiesene Sache auch nur ungewiss; 3) was wir nicht beweisen
können, ist
falsch; 4) wenn die erwiesene Sache wahr und gewiss ist, so ist auch
der Beweis
wahr und gewiss.
§. 199. Der Demonstrirgeist (spiritus demonstrationis)
besteht in der
zureichenden Geschicklichkeit eines Menschen zum Demonstriren, und dem
natürlichen Triebe nach einer solchen gewissen Erkenntniss, als man
durchs
Demonstriren erlanget. Ohne diesem Geiste kann niemand demonstriren,
und
es sollte sich niemand ohne demselben an diese Sache wagen.
§. 200. Die gar zu grosse Liebe zum Demonstriren ist die
Demonstrirsucht
(pruritus demonstrandi). Diese gelehrte Krankheit äussert sich
durch
folgende Stücke: 1) wenn man zu demonstriren sucht, was man nicht
demonstriren
kann und darf; 2) wenn man sogar auf eine unächte Art demonstrirt,
damit man nur den Schein des Demonstrirens bei Blödsinnigen erwecke;
3) wenn man nur bei dem blossen Demonstriren stehen bleibt, und die
demonstrirten
Wahrheiten nicht gehörig braucht und anwendet; 4) wenn man ein
Pedant im Demonstriren ist, oder dasjenige ganz und gar verachtet, was
nicht
demonstrirt ist, es sei nun dass es würklich nicht demonstrirt ist, oder
dass
wir es nur nicht dafür halten; 5) wenn man, wie ein Charlatan, das
Demonstriren
zu hoch erhebt, und zu viel [57] Prahlens davon macht, sogar alsdenn,
wenn man unnütze Kleinigkeiten demonstrirt.
§. 201. Eine Empfindung (sensatio) ist eine
Vorstellung einer gegenwärtigen
Sache, und indem wir etwas klar empfinden, so erfahren wir dasselbe.
Die Erfahrung (experientia) besteht also in derjenigen
Erkenntniss, welche
durchs Empfinden klar ist. Die klaren Empfindungen sind die
unmittelbare
Erfahrung (experientia immediata), und die übrige klare
Erkenntniss,
welche aus der unmittelbaren Erfahrung durch einen kürzern Beweis
hergeleitet
wird, heisst die mittelbare Erfahrung (experientia mediata).
Z.E. dass ich
denke, ist eine Empfindung und unmittelbare Erfahrung, dass ich aber ein
Vermögen
zu denken habe, ist eine mittelbare Erfahrung.
§. 202. Wenn uns etwas gewiss ist, so ist es uns entweder
aus der
Erfahrung gewiss, oder aus andern Gründen, und in dem ersten Falle
entweder
aus unserer eigenen Erfahrung, oder aus der Erfahrung anderer Leute.
Folglich
haben wir eine dreifache Quelle aller Beweise §. 191, nämlich
unsere eigene
Erfahrung, die Erfahrung anderer Leute, und andere Gründe, die keine
Erfahrungen
sind.
§. 203. Wenn wir einen Beweis 1) aus unserer eigenen
unmittelbaren
Erfahrung führen, so dürfen wir uns nur einen einzeln Fall klar
vorstellen, in
welchem wir etwas empfunden haben §. 201. 2) Bei den Beweisen
aus der
mittelbaren Erfahrung muss nicht nur wenigstens Eine unmittelbare
Erfahrung
angeführt werden, sondern die übrigen Beweisthümer sammt der Folge
müssen
auch gewiss sein §. 201. 193. 3) Wovon wir auch sogar
durch die unmittelbare
Erfahrung gewiss sind, ist keine unerweisliche Erkenntniss §.
192. 201.
4) Die Erfahrung giebt uns eine ausführliche Gewissheit, indem sie
alle Kennzeichen
der Wahrheit des Gegenstandes enthält §. 201. 94. 96.
5) Die Erfahrung
giebt uns nur eine ausführliche Gewissheit vom andern Range §.
189, und 6) stellt
sie uns die [58] Wahrheit nur aus den äusserlichen Kennzeichen
vor §. 94.
§. 204. Wenn wir eine Wahrheit aus andern Beweisthümern,
welche
keine Erfahrung sind, beweisen; so führen wir einen Beweis aus der
Vernunft
(probatio ex ratione). In einem solchen Beweise 1) muss kein
Beweisthum
vorkommen, welcher eine Erfahrung ist, und 2) alle Beweisthümer
desselben
müssen ohne Erfahrung ausführlich gewiss sein, wenn er eine
Demonstration
sein soll §. 193.
§. 205. Alle Erfahrung, und was wir aus derselben beweisen,
ist die Erkenntniss
von hinten her (cognitio a posteriore), die übrige vernünftige
Erkenntniss
aber wird, die Erkenntniss von vorne her (cognitio a priore),
genannt.
Wenn wir von einer Wahrheit sowohl aus eigener Erfahrung, als auch
aus der Vernunft gewiss sind, so nennet man dasselbe die Vereinbarung
der
Vernunft und der Erfahrung (connubium rationis et experientiae).
§. 206. Aus anderer Leute Erfahrung werden wir, vermittelst
des Glaubens,
gewiss. Wer eine wirkliche Sache für wahr ausgiebt, damit ein anderer
sie
auch für wahr halte, heisst ein Zeuge (testis), und seine
Handlung ein Zeugniss
(testimonium, testari). Glauben (credere) heisst, um eines
Zeugnisses willen
etwas annehmen. Der Glaube (fides, fides historica) ist der
Beifall, den wir
einer Sache um eines Zeugnisses willen geben. Der Gegenstand des
Glaubens
besteht in vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Dingen, aber
nicht in
andern Wahrheiten.
§. 207. Das Ansehen eines Zeugen (autoritas testis$b)
besteht in demjenigen
Grade seiner Ehre, vermittelst dessen er in seiner Erkenntniss für
nachahmungswürdig gehalten wird. Wir können keinem Zeugen glauben, der
in keinem Ansehen bei uns steht. Und dieses Ansehen besteht [59]
1) in der
Tüchtigkeit des Zeugen (dexteritas testis$b), wenn er zureichende
Kräfte besitzt,
nicht nur eine richtige Erfahrung zu bekommen, sondern dieselbe auch auf
eine richtige Art zu bezeichnen; 2) in der Aufrichtigkeit des
Zeugen (sinceritas
testis$b), oder in der Neigung seines Willens, seine Erfahrungen so
zu bezeichnen,
wie er sie für wahr hält. Keins von beiden kann, ohne dem andern, einem
Zeugen das gehörige Ansehen verschaffen.
§. 208. Ein Augenzeuge (testis oculatus) ist ein
Zeuge, welcher die
Sache selbst erfahren hat, die er bezeuget. Ein Hörenzeuge (testis
auritus) ist
kein Augenzeuge, sondern er hat nur das Zeugniss anderer von der
Sache erfahren.
§. 209. Zur Tüchtigkeit eines Augenzeugen wird erfodert:
1) er muss bei
der Sache gegenwärtig gewesen sein, die er bezeuget; 2) er muss
im Stande
sein, eine richtige Erfahrung zu bekommen; 3) er muss ein gutes und
treues
Gedächtniss haben, oder seine Erfahrungen alsobald aufschreiben; 4)
er muss
die Gabe besitzen, seine eigene Erkenntniss auf eine richtige und
hinlängliche
Art zu bezeichnen.
§. 210. Ein Hörenzeuge ist in Absicht auf das Zeugniss,
welches er bezeuget,
ein Augenzeuge, und er muss demnach alle dazu erfoderte Tüchtigkeit
besitzen §. 209. In so ferne er aber ein Hörenzeuge ist, werden
folgende
Stücke zu seiner Tüchtigkeit erfodert: 1) er muss nur die Zeugnisse
tüchtiger
Augenzeugen nachsagen, und er muss also allemal einen tüchtigen
Augenzeugen
anführen können, welcher sein Gewährsmann ist. Eine gemeine Sage
(fama)
ist ein Zeugniss vieler Hörenzeugen von einer Sache, deren
Augenzeuge unbekannt
ist. Diese Hörenzeugen leben entweder zu einer Zeit, und alsdenn ist
ihre
Sage ein öffentliches Gerüchte (rumor sine capite), oder zu
verschiedenen
Zeiten, und alsdenn ist sie eine mündliche Überlieferung (oralis
traditio).
Der gemeinen Sage [60] fehlt es am nöthigen Ansehen; 2) er muss
Verstand
genung besitzen, um recht zu fassen, was er hört oder lieset; 3) er
muss ein
treues Gedächtniss besitzen, um die Nachrichten so wieder andern
mitzutheilen,
wie er sie empfangen hat.
§. 211. Bei der Aufrichtigkeit eines Zeugen kommt
es bloss auf seinen
guten Willen an, nicht zu lügen §. 207. Derjenige Zeuge,
welcher sich von
einem wahren Zeugnisse entweder lauter Gutes, oder mehr Gutes als
Böses verspricht,
und welcher sich von der Lügen lauter Böses, oder mehr Böses als
Gutes verspricht, der redet die Wahrheit. Und in dem entgegengesetzten
Falle
lüget er. Dieses Gute oder Böse kann seine Seele oder seinen
Körper, oder
seinen äusserlichen Zustand betreffen, er kann es hoffen oder fürchten
von GOtt,
von denenjenigen Menschen, denen er das Zeugniss ablegt, oder von denen
er
zeuget u.s.w. er mag sich nun in dieser Sache betrügen oder nicht.
§. 212. Die Gewissheit eines Zeugnisses beruhet 1) auf
den innerlichen
Kennzeichen seiner Wahrheit §. 95. 96; 2) auf den äusserlichen
Kennzeichen
seiner Wahrheit, nämlich auf dem hinlänglichen Ansehen des Zeugen,
welches
wenigstens sehr wahrscheinlich sein muss §. 207, 94. Die
Zeugnisse eines
tüchtigen und aufrichtigen Zeugen können nicht falsch sein.
§. 213. Was wir glauben, erbetteln wir nicht §. 212.
168. Der Unglaube
(incredulitas) ist die Fertigkeit, einem gewissen oder
wahrscheinlichen Zeugnisse
nicht zu glauben. Die Leichtgläubigkeit (credulitas) ist die
Fertigkeit, einem
unwahrscheinlichen Zeugnisse zu glauben. Beide Fehler sind
unvernünftig §. 174.
§. 214. Ein Zeuge ist glaubwürdig (testis fide
dignus), wenn man auf
eine gelehrte Art wenigstens wahrscheinlich erkennen kann, dass er
genugsames
Ansehen habe; das Zeugniss eines solchen Zeugen ist ein glaubwürdiges
Zeugniss (testimonium fide dignum). Der vernünftige [61] oder
sehende Glaube
(fides oculata, rationalis) ist die Fertigkeit nur glaubwürdigen
Zeugen zu glauben.
§. 215. Es giebt 1) eine Vereinbarung der Erfahrung und
des Glaubens
(connubium experientiae et fidei), wenn wir sowohl aus eigener
Erfahrung, als
auch aus glaubwürdigen Zeugnissen etwas erkennen; 2) eine
Vereinbarung des
Glaubens und der Vernunft (connubium fidei et rationis), wenn wir
sowohl aus
der Vernunft, als auch durch den Glauben von einer Sache gewiss sind;
und
3) eine Vereinbarung der Vernunft, des Glaubens und der Erfahrung
(connubium rationis experientiae et fidei), wenn wir eine Wahrheit
durch alle
drei Wege überzeugend erkennen. Die Vereinbarung des Glaubens mit den
übrigen Quellen der Erkenntniss, wird auch der vermischte Glaube
(fides mixta)
genennet; wenn wir aber bloss um des Glaubens willen etwas annehmen, so
heisst es der reine Glaube (fides pura). Weil wir weder die
Tüchtigkeit noch
Aufrichtigkeit menschlicher Zeugen demonstriren können, so giebt der
Glaube
nur eine Wahrscheinlichkeit, und höchstens nur eine moralische
Gewissheit §. 175.
Der siebende Abschnitt,
von der praktischen gelehrten Erkenntniss.
§. 216. Eine Erkenntniss ist praktisch (cognitio
practica), in so ferne
sie uns auf eine merkliche Art bewegen kann, eine Handlung zu thun oder
zu
lassen. Alle vollkommenere Erkenntniss, die nicht praktisch ist, wird
eine
speculativische Erkenntniss (cognitio speculativa, speculatio)
genennet. Alle
gelehrte Erkenntniss ist demnach entweder praktisch oder speculativisch.
§. 217. Eine Erkenntniss, in welcher wir uns vorstellen,
dass etwas gethan
oder gelassen werden solle, wird [62] auch praktisch genannt,
in so ferne sie
der theoretischen Erkenntniss (cognitio theoretica, theoria)
entgegengesetzt
wird, der Erkenntniss, die uns nicht vorstellt, dass etwas gethan oder
gelassen
werden solle. Alle gelehrte Erkenntniss ist entweder praktisch oder
theoretisch,
und beide Arten gehören entweder zu der praktischen oder
speculativischen
Erkenntniss §. 216.
§. 218. Die praktische Erkenntniss ist besser als die
speculativische Erkenntniss
§. 216, weil in ihr eine grössere Zusammenstimmung des
Mannigfaltigen
angetroffen wird §. 22. Wer also seine gelehrte Erkenntniss aufs
möglichste
verbessern will, der muss die Speculation verhüten, und lauter
praktische
Erkenntniss suchen.
§. 219. Keine wahre gelehrte Erkenntniss ist ihrer Natur
nach speculativisch,
sondern nur um des Mangels der Einsicht eines Gelehrten willen, welcher
ihren Zusammenhang mit dem Verhalten des Menschen nicht einsehen kann,
oder nicht einsehen will. In dem letzten Falle beschimpft sich der
Gelehrte selbst.
§. 220. Es ist unvernünftig, wenn man für eine Speculation
halten wollte:
1) alle tiefsinnige, bestimmte, genaue und schwere gelehrte
Erkenntniss; 2) alle
Gelehrsamkeit überhaupt; 3) alle Theorie; 4) diejenige gelehrte
Erkenntniss, welche
in diesem oder jenem Menschen nicht praktisch ist; 5) alle
Erkenntniss, die
nicht einen unmittelbaren Einfluss in das moralische Verhalten eines
Menschen hat.
§. 221. Eine Erkenntniss ist entweder ihres Gegenstandes
wegen praktisch
(cognitio obiective practica), oder ihrer Beschaffenheit wegen
(cognitio
subiective practica), oder beides zugleich. In dem ersten Falle muss
sie einen
Gegenstand haben, welcher so erkannt werden kann, wie zu einer
praktischen
Erkenntniss erfodert wird. In dem andern Falle ist sie so beschaffen,
dass sie
in die Begehrungskraft würken kann.
[63] §. 222. Eine gelehrte Erkenntniss ist ihres
Gegenstandes wegen
praktisch: 1) wenn die erkannten Wahrheiten gut und nützlich sind.
Und in
dieser Absicht ist alle wahre gelehrte Erkenntniss praktisch §.
39. 221.
§. 223. Eine gelehrte Erkenntniss ist ihres Gegenstandes
wegen praktisch:
2) in so ferne sie bei den vernünftigen Handlungen, wodurch die
menschliche
Vollkommenheit erhalten wird, zum Grunde liegt §. 221, und deren
Mangel
man alsobald an den Handlungen eines Menschen merkt.
§. 224. Eine gelehrte Erkenntniss ist ihres Gegenstandes
wegen praktisch:
3) wenn ihr Gegenstand in den Regeln besteht, die wir beobachten
müssen,
wenn wir unsere gesammte Wohlfahrt auf die beste Art erhalten wollen
§. 221.
§. 225. Eine gelehrte Erkenntniss ist ihres Gegenstandes
wegen praktisch:
4) wenn ihr Gegenstand, auf eine entfernte und mittelbare Weise, einen
Einfluss
in unser gesammtes gutes Verhalten hat §. 221, z.E. die
Erkenntniss solcher
Wahrheiten, ohne welchen die übrigen praktischen Wahrheiten §.
222-224 entweder
gar nicht, oder doch nicht auf eine gelehrte Art von uns Menschen
erkannt
werden könnten.
§. 226. Weil kein Mensch im Stande ist, alle praktische
Wahrheiten
zu erkennen, so wird die gelehrte Erkenntniss vorzüglich und schlechthin
praktisch genannt (cognitio obiective et comparative s. eminenter
practica),
welche in einem höhern Grade praktisch ist, z.E. die uns merklich
nützlicher
ist, als eine andere, und welche einen unmittelbaren oder sehr nahen
Einfluss
in unser Verhalten hat.
§. 227. Alle gelehrte Erkenntniss wird vergleichungsweise
speculativisch
genennet (cognitio comparative speculativa), wenn sie in einem
sehr kleinen
Grade praktisch ist. Z.E. 1) wenn sie einen sehr kleinen und
unmerklichen [64]
Einfluss in unser regelmässiges Verhalten hat; 2) wenn sie einen sehr
kleinen Nutzen hat; 3) wenn sie uns an einer nöthigern und
nützlichern Erkenntniss
hindert.
§. 228. Um der verschiedenen Lebensart und
Hauptwissenschaft willen,
kann eine gelehrte Erkenntniss von dem einen mit Recht für praktisch,
und
von dem andern für speculativisch gehalten werden §. 226.
227. Ja, es kann
jemand um seiner geringen Erkenntnisskräfte willen, und aus
Nachlässigkeit,
den Zusammenhang einer gelehrten Erkenntniss mit unserm Verhalten,
nicht
einsehen, welcher sie daher für eine speculativische Erkenntniss halten
wird.
§. 229. In so ferne eine gelehrte Erkenntniss praktisch ist,
in so ferne
ist sie auch nützlich. Man muss demnach 1) keine Wahrheit und keine
gelehrte Erkenntniss für ganz unnütz halten §. 222. 2) Eine
gelehrte Erkenntniss
ist deswegen nicht unnütz, weil sie diesem oder jenem Menschen nichts
nutzt, und ihm wohl gar schädlich ist. 3) Eine gelehrte Erkenntniss,
welche
in einer Absicht nicht nützlich ist, kann in einer andern Absicht
nützlich sein.
4) Man muss nicht schliessen: was uns jetzo nicht nützlich ist, das
wird uns
auch künftig nicht nützlich sein.
§. 230. Je mehrere Nutzen eine gelehrte Erkenntniss
verschafft, je grösser
dieselben sind, und je grösser und mannigfaltiger ihr Einfluss in unser
gesammtes
Verhalten ist, desto praktischer ist sie §. 216.
§. 231. Damit ein jeder Gelehrter seine gelehrte
Erkenntniss aufs möglichste
verbessere, muss er 1) diejenigen Wahrheiten aufs vollkommenste
erkennen,
die im höchsten Grade praktisch sind. Der Grad des Fleisses und der
Vollkommenheit der gelehrten Erkenntniss, muss dem Grade des
Praktischen
in ihrem Gegenstande proportionirt sein §. 70. 2) Ein jeder
muss, wo möglich,
zu seiner Hauptwissenschaft denjenigen Theil der Gelehrsamkeit
erwählen, welcher
im höchsten Grade praktisch ist §. 63.
[65] §. 232. Eine Erkenntniss, die ihrer Beschaffenheit
nach praktisch
ist, wird eine lebendige und rührende Erkenntniss genannt (cognitio
viva,
movens). Eine lebendige vernünftige Erkenntniss (cognitio
rationalis viva)
ist eine vernünftige Erkenntniss, die so beschaffen ist, dass durch sie
vernünftige
Begierden und Verabscheuungen erweckt werden; oder sie enthält
Bewegungsgründe
(motiva), das ist, solche vernünftige Vorstellungen des Guten
und Bösen, wodurch Begierden und Verabscheuungen entstehen. Alle
vernünftige
Erkenntniss, die nicht so beschaffen ist, heisst eine vernünftige todte
Erkenntniss (cognitio rationalis mortua).
§. 233. Diejenige Beschaffenheit der Erkenntniss, vermöge
welcher sie
Begierden und Verabscheuungen würkt, heisst das Leben der Erkenntniss
(cognitionis
vita), welches, wenn es in den Bewegungsgründen besteht §. 232,
das
vernünftige Leben der Erkenntniss heisst, oder alsdenn rührt und
bewegt die
Erkenntniss auf eine vernünftige Art (vita rationalis cognitionis).
§. 234. Eine gelehrte Erkenntniss kann 1) in Absicht auf
ihren
Gegenstand ungemein praktisch, und dem ohnerachtet todt sein; 2) sie
kann
falsch und ungemein lebendig sein; das Leben der Erkenntniss ist also
kein
Kennzeichen ihrer Wahrheit; 3) eine gelehrte Erkenntniss kann sehr
weitläuftig,
gross, richtig, gewiss, und deutlich, und dem ohnerachtet todt sein §.
232.
Das Leben ist demnach noch eine Vollkommenheit der gelehrten
Erkenntniss,
welche von allen übrigen Vollkommenheiten derselben verschieden ist.
§. 235. Das Praktische in der gelehrten Erkenntniss wird
nur durch das
Leben würklich praktisch. Die lebendige vernünftige Erkenntniss ist
demnach
vollkommener als die todte, und wenn sie beide sonst auch mit allen
übrigen
logischen Vollkommenheiten im gleichen Grade sollten ausgeziert sein.
[66] §. 236. Wenn die vernünftige und gelehrte
Erkenntniss vernünftig
rühren soll, so muss sie 1) eine anschauende Erkenntniss sein. Eine
Erkenntniss
ist anschauend (cognitio intuitiva), wenn wir uns den Gegenstand
stärker
vorstellen, als die Zeichen desselben; stellen
wir uns aber diese stärker vor
als jenen, so ist die Erkenntniss symbolisch (cognitio symbolica).
Alle gelehrte
Erkenntniss ist entweder anschauend oder symbolisch. Wenn man die
Aufmerksamkeit, das Nachdenken und die Überlegung vornehmlich mit dem
Gegenstande der gelehrten Erkenntniss beschäftiget, so wird sie eine
deutliche
anschauende Erkenntniss.
§. 237. Das Vergnügen (voluptas) ist die anschauende
Erkenntniss der
Vollkommenheit, und die anschauende Erkenntniss der Unvollkommenheit
ist
das Missvergnügen (taedium). Eine Erkenntniss verursacht uns
eine Gleichgültigkeit
(indifferentia), wenn sie uns weder ein Vergnügen noch ein
Missvergnügen
verursacht. Wenn also die vernünftige und gelehrte Erkenntniss
vernünftig rühren soll, so muss sie 2) Vergnügen und Missvergnügen
erwecken;
a) über sich selbst muss sie uns lauter Vergnügen erwecken: weil sie
vermöge
aller Regeln der Vernunftlehre ungemein vollkommen sein muss, und das
Gefühl
ihrer Vollkommenheit uns antreiben muss, sie zu begehren und zu erlangen.
Wem es also gleichviel ist, ob er eine Sache gelehrt erkennt oder
nicht, dessen
gelehrte Erkenntniss ist nicht lebendig.
§. 238. Die vernünftige und gelehrte Erkenntniss muss,
wenn sie vernünftig
rühren soll, b) über den Gegenstand entweder Vergnügen, oder
Verdruss,
oder beides zugleich erwecken, indem sie uns denselben entweder als gut,
oder
als böse, oder als beides zugleich auf eine anschauende Art vorstellt.
Alsdenn
enthält die gelehrte Erkenntniss Bewegungsgründe §. 232, nicht
nur sie selbst
zu [67] begehren §. 237, sondern auch ihren Gegenstand entweder
zu begehren
oder zu verabscheuen.
§. 239. Wenn die vernünftige und gelehrte Erkenntniss uns
vernünftig
rühren soll, so muss sie 3) uns auf eine gelehrte Art vorstellen, dass
alles das
Gute und alles das Böse, weswegen sie uns vergnügt oder missvergnügt
macht,
in unsern folgenden Zuständen würklich sein werde.
§. 240. Wenn die vernünftige und gelehrte Erkenntniss uns
vernünftig
rühren soll, so muss sie uns 4) auf eine gelehrte Art vorstellen, dass
es in unserer
Gewalt stehe, oder stehen könne, das Gute würklich zu machen,
weswegen sie
uns vergnügt, und das Böse zu verhindern, weswegen sie uns ein
Missvergnügen
verursacht.
§. 241. Wenn die gelehrte Erkenntniss recht lebendig sein
soll, so muss
sie 1) kein Gleichgewicht verursachen, oder dasselbe doch balde heben.
Wir
stehen nämlich in einem Gleichgewichte (aequilibrium), wenn die
Bewegungsgründe
von beiden Seiten gleich und einander entgegen gesetzt sind; 2) das
sinnliche Leben der undeutlichen Erkenntniss überwiegen, oder dieses
muss ihr
gar nicht widersprechen.
§. 242. Wenn die vernünftige und gelehrte Erkenntniss recht
lebendig
ist, so verursacht sie einen kräftigen und dauerhaften Entschluss,
welcher durch
die That ausbricht, indem wir würklich so handeln, wie es der gelehrten
Erkenntniss
gemäss ist.
§. 243. Das ächte Leben der gelehrten Erkenntniss (vita
vera cognitionis
eruditae) besteht in dem wahren Gebrauche derselben (usus verus
cognitionis
eruditae), wenn wir alle wahre Nutzen derselben würken, oder uns in
der That durch sie vollkommener machen. Machen wir uns aber dadurch
unvollkommener
oder nur dem Scheine nach vollkommener, so besteht darin ihr
Missbrauch (abusus cognitionis eruditae), und der ist das
unächte [68] Leben
derselben (vita cognitionis eruditae spuria). Eine vollkommene
gelehrte Erkenntniss
muss auf eine ächte Art lebendig sein.
§. 244. Je mehrere und grössere Bewegungsgründe eine
gelehrte Erkenntniss
enthält, je besser sie erkannt werden, und je mehrere und grössere
Begierden
und Verabscheuungen durch sie erweckt werden, desto lebendiger ist
die gelehrte Erkenntniss.
§. 245. Man muss nicht schliessen: 1) die gelehrte
Erkenntniss, die mich
nicht rührt, rührt auch andere nicht; 2) die mich rührt, rührt auch
andere.
§. 246. Der Mangel des Lebens der gelehrten Erkenntniss
entsteht aus
Unwissenheit §. 236-240. 41. Nach dem nun dieselbe
entweder nothwendig oder
zufällig, lobenswürdig oder tadelnswürdig ist §. 43. 50. 51,
nach dem ist auch
der Mangel des Lebens so beschaffen. Es kann nicht verlangt werden,
dass
alle gelehrte Erkenntniss beständig und im gleichen Grade rühre.
§. 247. Je grösser und praktischer die Gegenstände sind,
desto stärker
muss ihre gelehrte Erkenntniss rühren; je kleiner und weniger praktisch
sie
aber sind, desto weniger muss ihre gelehrte Erkenntniss rühren §.
70. Alle
unsere gelehrte Erkenntniss muss uns in gewisser Absicht rühren §.
237.
§. 248. Ein jeder muss sich zu seiner Hauptwissenschaft
denjenigen
Theil der Gelehrsamkeit erwählen, welcher seiner Natur nach der
allerlebendigsten
gelehrten Erkenntniss fähig ist; und ein jeder muss seine
Hauptwissenschaft
am lebendigsten zu erkennen suchen §. 63. 64.
[69] Der achte Abschnitt,
von den gelehrten Begriffen.
§. 249. Ein Begriff (conceptus) ist eine Vorstellung
einer Sache in
einem Dinge, welches das Vermögen zu denken besitzt. Es sind demnach
alle
unsere Vorstellungen Begriffe.
§. 250. So viele verschiedene Arten der Erkenntniss es
giebt, so viele
verschiedene Arten der Begriffe giebt es auch §. 249. Folglich
sind die Begriffe
entweder gelehrte Begriffe (conceptus eruditus, logicus), oder
nicht §. 21.
Jener ist ein deutlicher Begriff, welcher in einem merklichen Grade
logisch
vollkommen ist. Ein ungelehrter Begriff (conceptus ineruditus) ist
ein Begriff
der keinen merklichen Grad der logischen Vollkommenheit besitzt. Und
alsdenn
ist er entweder ein schöner Begriff, oder nicht §. 19. Jener ist
ein ästhetischer
Begriff (conceptus pulcher, aestheticus), dieser aber ein gemeiner
(conceptus
vulgaris). Ein gelehrter Begriff ist entweder zugleich schön, oder
nicht. Der
letzte ist ein bloss gelehrter Begriff (conceptus mere eruditus).
Der erste
aber ein Begriff der nicht bloss gelehrt ist (conceptus non mere
eruditus).
Und dergleichen sind die besten Begriffe §. 32.
§. 251. Ein gelehrter Begriff muss den Regeln der
Weitläuftigkeit, der
Grösse, der Wahrheit, der Klarheit, der Gewissheit, und der
praktischen
Beschaffenheit der gelehrten Erkenntniss aufs möglichste gemäss sein
§. 41-248.
§. 252. Der Gegenstand der gelehrten Begriffe ist durch die
Natur derselben
nicht bestimmt. Von einem jedweden möglichen Dinge ist ein gelehrter
Begriff möglich §. 250.
§. 253. Ein jeder muss nur vornehmlich diejenigen Begriffe
nach der
Vernunftlehre verbessern, die zu seiner Hauptwissenschaft gehören,
§. 64, und
in einem jedweden [70] Lehrgebäude vornehmlich die Hauptbegriffe.
Es ist
nicht möglich und nöthig, alle unsere Begriffe nach der Vernunftlehre
zu verbessern,
und eben so wenig alle unsere gelehrten Begriffe in einem gleichen
Grade zu verbessern. Je grösser ein Begriff ist, desto mehr muss man
ihn
verbessern §. 70.
§. 254. Wir haben nur drei Wege zu Begriffen zu gelangen:
die Erfahrung,
die Abstraction, und die willkürliche Verbindung.
§. 255. Alle unsere Empfindungen sind Begriffe §.
249. 201. Ein Erfahrungsbegriff
(conceptus per experientiam formatus) ist ein Begriff, den wir
durch die Erfahrung erlangen. Z.E. die Begriffe von den
Veränderungen
unserer Seele, unseres Körpers und anderer Dinge ausser uns. Einen
Erfahrungsbegriff
erlangen wir entweder durch die unmittelbare, oder durch die
mittelbare Erfahrung. §. 201.
§. 256. Durch die unmittelbare Erfahrung können wir nur
Begriffe von
würklichen Dingen, in so ferne sie uns gegenwärtig sind, erlangen, und
zwar
enthalten diese Begriffe nur bejahende und veränderliche Merkmale. Die
mittelbaren
Erfahrungsbegriffe können uns auch andere Gegenstände, und was anders
an denselben vorstellen. §. 201.
§. 257. Weil die Erfahrungsbegriffe nur gelehrt sein
können, in so ferne
sie deutlich sind §. 250, so muss man sie sorgfältig zergliedern
§. 142. Und
diese Arbeit wird ofte befördert 1) durch den Gebrauch der Waffen
der Sinne,
z.E. der Vergrösserungsgläser. 2) Durch die Anatomie der
körperlichen Dinge,
wodurch man die Theile und die Art ihrer Zusammensetzung erkennet. Und
dadurch erlangt man den Begriff von dem Wesen eines körperlichen
Dinges.
3) Durch die Aufmerksamkeit auf dasjenige, woraus eine Sache entsteht
und
wie sie entsteht, wenn man bei dem Entstehen derselben zugegen ist, und
[71]
daraus erlangt man auch Begriffe von dem Wesen. 4) Wenn man den
Gegenstand
ofte in verschiedenen Umständen zu erfahren sucht: denn alsdenn
entdeckt
man die besten Merkmale leichter, wodurch der Erfahrungsbegriff
ausführlich
wird.
§. 258. Alle Erfahrungsbegriffe sind wahr und gewiss §.
202, und sie
stellen uns die Gegenstände so vor, als
sie beschaffen sind, weil wir sonst
Einwohner einer andern Welt sein würden. Wenn wir aber einen Begriff
für
einen Erfahrungsbegriff halten, der es nicht ist, oder etwas für einen
Gegenstand
des Erfahrungsbegriffs, welcher es nicht ist: so scheint es zwar, als
wenn
der Erfahrungsbegriff falsch wäre, allein der Fehler steckt in einem
andern
Begriffe.
§. 259. Wir machen einen Begriff durch die logische
Absonderung
(conceptus per abstractionem logicam formatus), wenn wir
übereinstimmende
Begriffe von verschiedenen Dingen gegen einander halten, und die
Merkmale,
die sie mit einander gemein haben, allein uns deutlich vorstellen. Zu dem
Ende 1) nehme man einige Begriffe, die verschieden sind, und
ähnlich zu
gleicher Zeit. Z.E. ein vernünftiges Thier und ein unvernünftiges
Thier;
2) einen jeden derselben zergliedere man §. 142; 3) die in ihnen
verschiedenen
Merkmale abstrahire man, oder man verdunkele sie; 4) die übrigen
Merkmale
fasse man in einen Begriff zusammen,
z.E. ein Thier.
§. 260. Alle Begriffe, welche durch die logische
Absonderung gemacht
werden, sind abgesonderte oder abstracte Begriffe (conceptus
abstractus,
notio). Begriffe, die nicht abgesondert sind, heissen einzelne
Begriffe (conceptus
singularis, idea). Z.E. Leibniz. Alle unmittelbare
Erfahrungsbegriffe sind
einzelne Begriffe §. 255. 201. Was als ein Merkmal des
andern vorgestellt
wird, ist in ihm enthalten und kommt ihm zu
(in altero contineri, ipsi convenire).
Der abgesonderte Begriff ist [72] also in allen denen Begriffen
enthalten,
von denen er abgesondert werden kann §. 259. Der abgesonderte
Begriff enthält diejenigen unter sich, von denen er abgesondert worden,
und diese werden unter ihm enthalten (conceptus alios sub se continet,
et
conceptus$f sub alio continentur seu ad eum referuntur).
§. 261. Ein abgesonderter Begriff wird ein höherer Begriff
(conceptus
superior) genannt, in so ferne er andere unter sich enthält;
in so ferne aber
ein Begriff unter einem andern enthalten ist, in so ferne wird er ein
niedriger
Begriff genannt (conceptus inferior). Der niedrigere Begriff
enthält allemal
Merkmale, welche in dem höhern nicht enthalten sind §. 259, und die
werden
der Unterschied der niedrigern Begriffe genannt (differentia
conceptus$b inferioris).
Ein abgesonderter Begriff, welcher nur einzelne Begriffe unter sich
begreift,
heisst eine Art (species), welcher aber auch abgesonderte Begriffe
unter
sich enthält, wird eine Gattung (genus) genannt.
§. 262. Der Inbegriff aller Begriffe, die unter einem
abgesonderten Begriffe
enthalten sind, ist der Umfang desselben (sphaera notionis). Je
abstracter
und höher also ein Begriff ist, das ist: je öfter die logische
Absonderung
bei ihm wiederholt ist, desto grösser ist sein Umfang. Ein
abgesonderter
Begriff kommt entweder mehrern Begriffen zu,
als denenjenigen, die
unter einem andern enthalten sind, oder wenigern, oder keins von beiden.
In dem ersten Falle ist er ein weiterer Begriff als der andere
(conceptus latior),
in dem andern, ein engerer (conceptus angustior), und in dem dritten
sind es
Wechselbegriffe (conceptus$f reciproci), von denen keiner weiter
ist als der
andere. In so ferne ein abgesonderter Begriff allen zukommt, die unter
einem
andern enthalten sind, in so ferne heisst er ein allgemeiner Begriff
(conceptus
universalis), in so ferne er aber nicht allen denselben zukommt, ein
besonderer
(conceptus particularis). Ein abgesonderter [73] Begriff kann
ein höherer und
niedrigerer, weiterer und engerer, allgemeiner und besonderer Begriff in
verschiedener
Absicht genannt werden. Ein jeder abgesonderter Begriff ist in gewisser
Absicht allgemein. Die abstracte gelehrte Erkenntniss wird daher
die allgemeine gelehrte Erkenntniss genannt (cognitio erudita
universalis).
§. 263. Bei der allgemeinen Erkenntniss kann man 1)
schliessen: Was
den höhern Begriffen zukommt oder widerspricht, das kommt +W
kommt zu -W auch zu, oder
widerspricht allen niedrigern Begriffen, die unter ihnen enthalten sind.
§. 260.
2) Man kann nicht schliessen: was einem niedrigern Begriffe zukommt
oder
widerspricht, das kommt auch zu oder
widerspricht andern niedrigern Begriffen,
welche mit jenem zu einem höhern Begriffe gehören. §. 261.
3) Man kann
schliessen: was allen und jedweden niedrigern Begriffen zukommt oder
widerspricht,
das kommt auch zu oder widerspricht ihrem
höhern Begriffe §. 259. 261.
§. 264. Die abstracte Erkenntniss befördert 1) die
Deutlichkeit und Vollständigkeit
der Erkenntniss §. 143. Denn je abstracter sie ist, desto
weniger
enthält sie in sich §. 259, und desto leichter kann sie also ohne
viele Verwirrung
durchdacht werden; 2) die Weitläuftigkeit der Erkenntniss §.
263.
25. 3) Die Gründlichkeit der Erkenntniss §. 263.
163. 4) Den Nutzen und
den Gebrauch der gelehrten Erkenntniss §. 39.
§. 265. Ein abgesonderter Begriff enthält nichts, was
nicht in den niedrigern
Begriffen enthalten ist §. 259, sind diese also wahr, so kann er
unmöglich
falsch sein. Wenn man also einen abgesonderten Begriff beweisen will,
so darf man nur zeigen, dass er von wahren Begriffen abgesondert worden.
Wenn man von einem falschen Begriffe die Merkmale absondert, welche den
übrigen widersprechen, so bekommt man einen wahren Begriff §. 95.
§. 266. Ein Begriff wird durch die gelehrte willkürliche
Verbindung
gemacht (combinatio conceptuum [74] arbitraria, logica, erudita,
philosophica,
rationalis), wenn man zwei Begriffe als Einen sich vorstellt, von
denen man
auf eine gelehrte Art erkannt, dass sie einander nicht zuwider sind. Zu
dem
Ende nehme man 1) einen abgesonderten Begriff, man mag ihn nun
entweder
schon längst abgesondert haben, oder jetzo erst absondern; 2) einen
Unterschied
eines niedrigern Begriffs, von dem wir entweder schon überzeugt sind,
oder
nachher erst überzeugt werden, dass er dem abgesonderten Begriffe nicht
widerspreche.
Dieser Unterschied ist entweder durch die Absonderung von dem
abstracten Begriffe weggelassen worden, oder nicht. In dem ersten Falle
bekommen
wir einen niedrigern Begriff, von welchem wir den abstracten abgesondert
haben; in dem andern aber einen neuen niedrigern Begriff; 3) man
stelle sich den abstracten Begriff, mit diesem
Unterschiede zusammen genommen,
als Einen Begriff vor.
§. 267. Ein gelehrter Begriff, welcher durch die
willkürliche Verbindung
gemacht worden, muss bewiesen oder widerlegt werden. Beides geschieht
1) aus
der Erfahrung, wenn man zeigt, dass ihre Gegenstände entweder würklich
sind,
oder nicht würklich sind; 2) aus der Vernunft, entweder
mittelbarer oder
unmittelbarer Weise §. 196. Z.E. wenn man entweder zeigt,
dass, und
wie ihre Gegenstände würklich werden können, oder dass sie nicht
würklich
werden können.
§. 268. Eine Erklärung, oder eine logische Erklärung
(definitio, definitio
logica) ist ein bestimmter Begriff von einer Sache. Der
Gegenstand der
Erklärung ist die erklärte Sache, oder der erklärte Begriff (definitum) §. 151.
§. 269. Eine Beschreibung (descriptio) ist ein
unbestimmter Begriff,
und sie ist entweder eine ausführliche oder eine unausführliche
Beschreibung
§. 151 (descriptio completa, vel incompleta). Keine
Beschreibung ist eine Erklärung,
und muss noch viel weniger dafür [75] gehalten werden §. 268.
Unterdessen können sie sehr vollkommene, nützliche und nöthige
gelehrte Begriffe
sein.
§. 270. Die Erklärungen müssen sechs Regeln gemäss sein:
1) Eine Erklärung
muss den Regeln der Weitläuftigkeit der gelehrten Erkenntniss
gemäss sein. §. 41-65. Folglich muss sie ein ausführlicher
Begriff sein.
§. 268. 151. 55. Folglich a) muss sie nicht weniger
Merkmale in sich enthalten,
als zu einem ausführlichen Begriffe erfodert werden; auch nicht b)
mehrere,
als nöthig sind. §. 269. Mithin muss die Erklärung, unter
allen möglichen
ausführlichen Begriffen von einer Sache, der allerkürzeste sein, das
ist: so wenig
Merkmale enthalten, als es die Ausführlichkeit erlaubt. c) Sie muss
nicht
weiter sein als die erklärte Sache §. 262, folglich müssen ihre
Merkmale zusammen genommen,
keinem andern Dinge, als ganz allein der erklärten Sache,
zukommen. d) Sie muss nicht enger sein als die erklärte Sache.
§. 262. Folglich
sind der erklärte Begriff und die Erklärung Wechselbegriffe §.
262.
§. 271. Wenn man in einem Lehrgebäude die höhern Begriffe
eher erklärt
als die niedrigern, so kann man, wenn man einen Begriff erklären soll,
der nicht der höchste ist, die Erklärung desselben aus dem nächsten
höhern
Begriffe und aus dem Unterschiede zusammensetzen §. 261.
Dadurch werden
die Erklärungen kurz und ausführlich, die Erklärungen hängen
systematischer
zusammen, sie sind der Natur der niedrigern Begriffe gemässer,
und sie bahnen
einen leichtern Weg zu den Demonstrationen.
§. 272. Weil der erklärte Begriff und die Erklärung
Wechselbegriffe sind
§. 270, so kann man schliessen: 1) Wem der erklärte Begriff
zukommt, dem
kommt auch die Erklärung zu; 2) wem die
Erklärung zukommt, dem kommt
auch der erklärte Begriff zu; 3) wem der erklärte Begriff
nicht zukommt, dem
kommt auch die Erklärung nicht zu; [76]
4) wem die Erklärung nicht zukommt,
dem kommt auch der erklärte Begriff nicht zu
§. 262.
§. 273. 2) Eine Erklärung muss den Regeln der Grösse
der gelehrten
Erkenntniss gemäss sein. §. 66-91. Sie muss also aus den
grössten, wichtigsten
und fruchtbarsten Merkmalen bestehen, aus dem Wesen, wesentlichen
Stücken
und Eigenschaften, und so ofte es möglich, aus bejahenden Merkmalen.
§. 115-121. Es ist also ein Fehler a) wenn eine
Erklärung aus zufälligen Beschaffenheiten
besteht: alsdenn würde sie nicht einmal ein ausführlicher Begriff
sein. §. 121. b) Wenn sie aus Verhältnissen besteht: alsdenn
wäre sie auch
kein ausführlicher Begriff. §. 121. c) Wenn sie ohne Noth
aus verneinenden
Merkmalen besteht. Wenn man in einem Lehrgebäude einander entgegen gesetzte
Begriffe erklären soll, so muss aus den Erklärungen die
Entgegensetzung
erhellen, und also muss einer von beiden verneinend erklärt werden.
§. 274. 3) Eine Erklärung muss den Regeln der
Wahrheit der gelehrten
Erkenntniss gemäss sein. §. 92-114. Die Wahrheit der
Erklärungen
erfodert noch überdies, dass sie allen Regeln gemäss sein müssen, die
man bei
den Erklärungen beobachten muss. Eine regelmässige Erklärung
(definitio
legitima) ist allen Regeln der Erklärungen gemäss, welche aber
einer oder
mehrern dieser Regeln zuwider ist, ist eine regellose Erklärung
(definitio
illegitima).
§. 275. 4) Eine Erklärung muss allen Regeln der
Deutlichkeit der
gelehrten Erkenntniss gemäss sein. §. 115-155. Doch kann
sie ein unvollständiger
Begriff sein. §. 147. Da nun alle ihre Merkmale klar sein
müssen
§. 137, so kann man dieselben entweder theils aus dem gemeinen
Leben, theils
aus andern Lehrgebäuden als klar voraus setzen; oder man muss sie erst
erklären,
ehe man sie als Merkmale in die Erklärung setzt §. 268.
[77] §. 276. Wenn eine Erklärung schlechterdings dunkel
ist, oder
schlechterdings dunkele Merkmale hat, so ist sie gar keine Erklärung
§. 275. 125.
Ist sie aber nur beziehungsweise dunkel, oder enthält sie Merkmale,
die nur beziehungsweise
dunkel sind, so kann sie zwar eine gute Erklärung sein, aber
nicht für denjenigen, dem sie dunkel ist §. 125.
§. 277. Der erklärte Begriff ist nicht klärer, als er
selbst ist. Damit also
die Erklärung nicht dunkel und undeutlich werde §. 275, muss man
sich hüten,
damit der erklärte Begriff weder als ein unmittelbares noch als ein
mittelbares
Merkmal in seine eigene Erklärung gesetzt werde §. 116. Wenn
das letzte
geschieht, so nennt man diesen Fehler die Wiederkehr im Erklären
(circulus
in definiendo).
§. 278. 5) Eine Erklärung muss den Regeln der
Gewissheit der gelehrten
Erkenntniss gemäss sein §. 155-215. Folglich muss man bei
einer
jedweden Erklärung beweisen, a) dass sie entweder ein richtiger
Erfahrungsbegriff
sei §. 258, oder ein richtiger abgesonderter §. 265, oder ein
richtiger
willkürlicher Begriff §. 267, b) dass sie regelmässig sei §.
274.
§. 279. 6) Eine Erklärung muss den Regeln der
praktischen gelehrten
Erkenntniss gemäss sein §. 216-248. Folglich muss man die
wichtigsten und
fruchtbarsten Merkmale zu einer Erklärung erwählen, aus welchen aufs
leichteste
das Nützlichste und Brauchbarste erwiesen werden kann, was wir von der
erklärten
Sache untersuchen müssen, um dieselbe auf eine praktische Art
zu erkennen.
§. 280. Eine Erklärung stellt
entweder das Wesen der erklärten Sache vor,
oder nicht §. 273. Jene ist eine Sacherklärung (definitio
realis, genetica),
diese aber eine Worterklärung (definitio nominalis). Eine
Worterklärung
enthält entweder die wesentlichen Stücke der [78] erklärten
Sache, oder ihre Eigenschaften
§. 273. Jene ist eine wesentliche Worterklärung (definitio
essentialis),
diese aber eine zufällige Worterklärung (definitio accidentalis).
§. 281. Wenn man eine Sacherklärung machen will, so 1)
suche man
das Wesen der erklärten Sache zu erkennen, entweder durch die
mittelbare
Erfahrung, z.E. §. 257, oder durch die Absonderung, oder durch
einen Beweis
aus der Vernunft, oder durch die willkürliche Verbindung; 2) man
mache von
dem Wesen einen bestimmten Begriff §. 280.
§. 282. Wenn man eine Worterklärung machen will, so suche
man
1) die wesentlichen Stücke oder Eigenschaften der zu erklärenden
Sache zu erkennen,
entweder aus der mittelbaren Erfahrung §. 256, oder durch einen
Beweis aus der Vernunft, oder aus dem Wesen, wenn es uns schon bekannt
ist. 2) Man suche diejenigen wesentlichen
Stücke und Eigenschaften, und so
viele derselben aus, als zu einer vollkommenen regelmässigen
Erklärung nöthig
sind §. 270-279.
§. 283. Weil die zu erklärenden Sachen viele wesentliche
Stücke und
Eigenschaften haben können, so kann man nach Wohlgefallen diejenigen
aussuchen,
die eine Worterklärung ausmachen §. 282; wenn man nur übrigens
die Regeln der Erklärungen beobachtet. Und in so ferne sind die
Worterklärungen
willkürlich.
§. 284. Gleichwie wir nicht alle Begriffe erklären können
§. 139. 150.
268, so dürfen wir auch nicht alle Begriffe erklären, sondern nur
diejenigen,
die in den Horizont unserer gelehrten Erkenntniss gehören, und ohne
deren
Erklärung unsere gelehrte Erkenntniss nicht den erfoderten Grad ihrer
Vollkommenheit
erreichen könnte. Die Ausschweifung im Erklären wird die
Erklärungssucht
genannt (pruritus definiendi).
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