Kant: Briefwechsel, Brief 99, An Iohann Caspar Lavater. |
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An Iohann Caspar Lavater. | |||||||
Koenigsberg d. 28t April: 1775. | |||||||
Mein würdiger Freund | |||||||
Herr Rousset Begleiter, und HE. von Negelein Gesellschaftscavalier | |||||||
des jungen Prinzen von Holstein-Beck wünschen diesen | |||||||
Herren in die Bekantschaft mit einem bey uns und allerwerts hochgeschätzten | |||||||
Manne zu führen. Ich schmeichle mir von Ihrer gütigen | |||||||
Gesinnung gegen mich: daß Sie diesen Prinzen, den ich bey einiger | |||||||
Unterweisung, die ich ihm gegeben habe, als einen jungen Herren | |||||||
von Talent und besten Herzen habe kennen gelernt, nützliche und ausführliche | |||||||
Nachrichten, in Ansehung des Ort und der Persohnen in | |||||||
der Schweitz, wo er sich vorgesetzt hat seine Studien zu machen, ertheilen | |||||||
werden, nach der Ihrer bekannten und edlen Bereitwilligkeit, | |||||||
alle guten Absichten so viel als Ihnen möglich ist zu befördern. | |||||||
Was meinen Privatauftrag betrift so hat es mir bis dato nicht | |||||||
gelingen wollen den Mousq: Sultzer in Arbeit zu bringen. Ich werde | |||||||
sehen, was sich diesen Sommer nach der Exercierzeit thun läßt. | |||||||
Er führt sich sonst gut auf, bey der Zulage, die er von Ihrer letzteren | |||||||
remesse ieden Löhnungstag bekömmt. Allein es ist etwas davon auf | |||||||
die Verbesserung seiner kleinen Mondirungsstücke verwandt worden, | |||||||
daher ich, um diesen Zuschus nicht aufhören zu lassen, auf Ersuchen, | |||||||
3 reichsthaler oder 1 Dukat holl: vorgeschossen habe, welche bis gegen | |||||||
Ende des Juniusmonaths langen werden, wo er verhofft, durch Ihre | |||||||
Vermittelung, die fernere Zulage zu bekommen. Ich habe, über iene, | |||||||
die Qvittung und einen Brief, den sich Sultzer hat schreiben lassen | |||||||
und der nicht viel sagt, mit beygeschlossen. | |||||||
Sie verlangen mein Urtheil über Ihre Abhandlung vom Glauben | |||||||
und dem Gebethe. Wissen Sie auch an wen Sie sich deshalb | |||||||
wenden? An einen, der kein Mittel kennt, was in dem letzten Augenblicke | |||||||
des Lebens Stich hält, als die reineste Aufrichtigkeit in Ansehung | |||||||
der verborgensten Gesinnungen des Herzens und der es mit | |||||||
Hiob vor ein Verbrechen hält Gott zu schmeichlen und innere Bekentnisse | |||||||
zu thun, welche vielleicht die Furcht erzwungen hat und womit | |||||||
das Gemüth nicht in freyem Glauben zusammenstimmt. Ich unterscheide | |||||||
die Lehre Christi von der Nachricht die wir von der Lehre | |||||||
Christi haben und, um iene rein herauszubekommen, suche ich zuvörderst | |||||||
die moralische Lehre abgesondert von allen neutestamentischen | |||||||
Satzungen herauszuziehen. Diese ist gewiß die Grundlehre des | |||||||
Evangelii, das übrige kan nur die Hülfslehre desselben seyn, weil die | |||||||
letztere nur sagt: was Gott gethan um unserer Gebrechlichkeit in Ansehung | |||||||
der Rechtfertigung vor ihm zu Hülfe zu kommen, die erstere | |||||||
aber, was wir thun müssen um uns alles dessen würdig zu machen. | |||||||
Wenn wir das Geheimnis, von dem was Gott seiner seits thut, auch | |||||||
gar nicht wüsten, sondern nur überzeugt wären: daß bey der Heiligkeit | |||||||
seines Gesetzes und dem unüberwindlichen Bösen unseres Herzens, | |||||||
Gott nothwendig irgend eine Ergänzung unsrer Mangelhaftigkeit in | |||||||
den Tiefen seiner Rathschlüsse verborgen haben müsse, worauf wir | |||||||
demüthig vertrauen können, wenn wir nur so viel thun als in unsern | |||||||
Kräften ist um derselben nicht unwürdig zu seyn; so sind wir in demienigen | |||||||
was uns angeht hinreichend belehrt, die Art wie die göttliche | |||||||
Gütigkeit uns Beyhülfe wiederfahren läßt, mag seyn welche sie | |||||||
wolle. Und eben darin: daß unser desfals auf Gott gesetztes Vertrauen | |||||||
unbedingt ist, d. i. ohne einen Vorwitz die Art wissen zu | |||||||
wollen, wie er dieses Werk ausführen wolle und noch vielmehr ohne | |||||||
Vermessenheit, sie so gar, einigen Nachrichten zu folge, bey seiner | |||||||
Seelen Seeligkeit beschwören zu wollen, eben darin besteht eben der | |||||||
moralische Glaube, welchen ich im Evangelio fand, wenn ich in der | |||||||
Vermischung von Factis und offenbarten Geheimnissen die reine Lehre | |||||||
aufsuchte die zum Grunde liegt. Es mochten zu seiner Zeit Wunder | |||||||
und erofnete Geheimnisse nöthig gewesen seyn, um eine so reine | |||||||
Religion welche alle Satzungen in der Welt aufhob, bey dem Wiederstande, | |||||||
den sie am Iudenthum fand, zuerst einzuleiten und unter | |||||||
einer großen Menge auszubreiten. Dabey waren viel Argumente | |||||||
+GLG kat' anthro_pon + nöthig, die damaliger Zeit ihren großen Werth hatten. | |||||||
Wenn aber die Lehre des guten Lebenswandels und der reinigkeit der | |||||||
Gesinnungen im Glauben, (daß Gott das übrige, was unsrer Gebrechlichkeit | |||||||
abgeht, ohne so genannte Gottesdienstliche Bewerbungen, | |||||||
darinn zu allerzeit der Religionswahn bestandet hat, auf eine Art | |||||||
die uns zu wissen gar nicht nöthig ist, schon ergänzen werde) | |||||||
in der Welt als die einzige Religion, worin das wahre Heil | |||||||
der Menschen liegt, einmal gnugsam ausgebreitet ist, so daß sie sich | |||||||
in der Welt erhalten kan, so muß das Gerüste wegfallen, wenn schon | |||||||
der Bau da steht. Ich verehre die Nachrichten der Evangelisten und | |||||||
Apostel und setze mein demütiges Vertrauen auf das Versöhnungsmittel, | |||||||
wovon sie uns historische Nachricht gegeben haben, oder auch | |||||||
auf irgend ein anderes, was Gott in seinen geheimen Rathschlüssen | |||||||
verborgen haben mag; denn ich werde dadurch nicht im mindesten ein | |||||||
besserer Mensch, wenn ich dieses Mittel bestimmen kan, weil es nur | |||||||
dasienige betrift was Gott thut, ich aber so vermessen nicht seyn kan, | |||||||
ganz entscheidend vor Gott dieses als das wirkliche Mittel, unter | |||||||
welchem allein ich von ihm mein Heil erwarte, zu bestimmen u. so | |||||||
zu sagen Seel und Seeligkeit darauf zu verschweren; denn es sind | |||||||
Nachrichten. Ich bin den Zeiten von welchen sie her sind nicht nahe | |||||||
gnug, um solche gefährliche und dreuste Entscheidungen zu thun. | |||||||
Überdem kan mich das auch nicht im mindesten der Zueignung dieses | |||||||
Guten, wenn ich es auch ganz gewiß wüste, würdiger machen: da | |||||||
ich es bekenne, betheure und meine Seele damit anfülle, ob es zwar | |||||||
in einigen Gemüthern ein Hülfsmittel seyn kan, sondern es bleibt mir | |||||||
nichts, um dieser göttlichen mitwürkenden Kraft theilhaftig zu werden, | |||||||
übrig, als meine mir von Gott ertheilte natürliche Kräfte so zu | |||||||
brauchen, daß ich dieser seiner Beyhülfe nicht unwürdig, oder, wenn | |||||||
man lieber will, unfähig werde. | |||||||
Was ich vorher neutestamentische Satzungen nannte, darunter | |||||||
verstehe ich alles, wovon man nur durch historische Nachricht Uberzeugung | |||||||
bekommen kan und was gleichwohl zur confession oder | |||||||
Observantz als eine Bedingung der Seeligkeit anbefohlen wird. Unter | |||||||
dem moralischen Glauben verstehe ich das unbedingte Zutrauen auf | |||||||
die göttliche Hülfe, in Ansehung alles guten, was, bey unsern redlichsten | |||||||
Bemühungen, doch nicht in unserer Gewalt ist. Von der | |||||||
Richtigkeit und der Nothwendigkeit des moralischen Glaubens kan ein | |||||||
ieglicher, nachdem er ihm einmal eröfnet ist, aus sich selbst, ohne | |||||||
historische Hülfsmittel überzeugt werden, ob er gleich ohne solche Eröfnung | |||||||
von selbst darauf nicht würde gekommen seyn. Nun gestehe | |||||||
ich frey: daß in Ansehung des historischen unsere neutestamentische | |||||||
Schriften niemals in das Ansehen können gebracht werden, daß wir | |||||||
es wagen dürften ieder Zeile derselben mit ungemessenem Zutrauen | |||||||
uns zu übergeben und vornemlich dadurch die Aufmerksamkeit auf | |||||||
das Eintzig nothwendige, nemlich den moralischen Glauben des | |||||||
Evangelii zu schwächen, dessen Vortreflichkeit eben darinn besteht, da | |||||||
alle unsre Bestrebung auf die Reinigkeit unserer Gesinnung und die | |||||||
gewissenhaftigkeit eines guten Lebenswandels zusammengezogen wird; | |||||||
doch so daß das heilige Gesetz uns iederzeit vor augen liege und uns | |||||||
iede auch die kleinste Abweichung von dem göttlichen Willen als verurtheilt | |||||||
von einem unnachtsicht[lich]lichen und gerechten Richter unaufhörlich | |||||||
vor halte, wowieder keine Glaubensbekentnisse, Anrufungen | |||||||
heiliger Nahmen, oder Beobachtung gottesdienstlicher Observanzen | |||||||
etwas helfen können, aber gleichwohl die tröstliche Hofnung gegeben | |||||||
wird: daß, wenn wir in Vertrauen auf die uns unbekante und geheimnisvolle | |||||||
gottliche Hülfe, so viel gutes thun als in unsrer Gewalt | |||||||
ist, wir ohne alle verdienstliche Werke (des cultus von welcher Art er | |||||||
auch sey) dieser Ergänzung sollen theilhaftig werden. Nun fällt es | |||||||
sehr in die Augen: daß die Apostel diese Hülfslehre des Evangelii | |||||||
vor die Grundlehre desselben genommen haben, und, was vielleicht | |||||||
wirklich von Seiten Gottes der Grund unserer Seeligkeit seyn | |||||||
mag, vor den Grund unseres zur Seeligkeit nöthigen Glaubens | |||||||
gehalten haben und, an statt des heiligen Lehrers praktische Religionslehre | |||||||
als das wesentliche anzupreisen, die Verehrung dieses Lehrers. | |||||||
selbst und eine Art von Bewerbung um Gunst durch Einschmeichelung | |||||||
und Lobeserhebung desselben, wowieder iener, doch so nadrücklich und | |||||||
oft geredet hatte, angepriesen haben. Doch war diese Methode den | |||||||
damaligen Zeiten (vor welche und ohne Rücksicht auf die spätere | |||||||
sie auch schrieben) besser angemessen als den unsrigen wo alten | |||||||
Wundern neue, jüdischen Satzungen christliche entgegengesetzt werden | |||||||
musten. Hier muß ich schleunig abbrechen und muß in ergebenster | |||||||
Empfehlung an Dero würdigen Freund Herren Pfenniger auf mein | |||||||
nächstes Schreiben (dergleichen ietzt durch Einschlus leichter fortgehen | |||||||
kan) das übrige verschieben. Ihr aufrichtiger | |||||||
Freund. | I.Kant | ||||||
[ abgedruckt in : AA X, Seite 175 ] [ Brief 98 ] [ Brief 100 ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ] |