Kant: Briefwechsel, Brief 90, Von Iohann Caspar Lavater. |
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Von Iohann Caspar Lavater. | |||||||
8. April 1774. | |||||||
Mein liebster Herr Profeßor, | |||||||
Vielen Dank von mir, und den Anverwandten des Sulzers für | |||||||
die Mühe, Sorgfalt und Treüe, die Sie in ihrer Angelegenheit bewiesen. | |||||||
Diesen Augenblik geht seine Schwester von mir, und sagt, im Namen | |||||||
ihrer Mutter (: denn sein Vater ist vor einigen Wochen gestorben: ob | |||||||
Sie ihm diess sagen wollen? :) daß sie mit dem Rath, den Sie ihnen | |||||||
geben, vollkommen zufrieden seyen; daß sie ihm sogleich 2 Carlinen | |||||||
auf die Bedingung, die Sie selber rathsam finden, senden wollen; da | |||||||
Sie erst Beweise seiner beßern Aufführung sehen wollten besonders | |||||||
seines Fleißes ehe sie an seine Befreyung denken könnten. - Gelegentlich | |||||||
melden Sie mir doch mit ein paar Zeilen, wie sich der Mensch in | |||||||
einigen Monaten anlaße. | |||||||
Auf Ihre Critik der reinen Vernunft bin ich u: viele meines | |||||||
Vaterlands sehr begierig. Ohne Schmeicheley - Seit vielen Iahren | |||||||
sind Sie mein liebster Schriftsteller, mit dem ich am meisten sympathisire; | |||||||
besonders in der Metaphysick und überhaupt in der Manier u. Methode | |||||||
zu denken. | |||||||
und nun, weil Sie doch eine Critik der reinen Vernunft schreiben, | |||||||
mögt' ich Sie fragen: Werden Sie auch folgendes drinn sagen: | |||||||
Daß von der reinen Vernunft unsre Critik schwerlich entfernter | |||||||
seyn könne, als sie ist. unsre Grundsätze - oder vielmehr unsre | |||||||
Maxiemen, (: denn immer wird beydes verwechselt:) in allen unmathematischen | |||||||
Wißenschaften - so entfernt, als unsere besondern urtheile, | |||||||
die so oft mit unsern berühmtesten Maxiemen, lächerlich Kontrastieren. | |||||||
daß, bis wir unsere Beobachtungen mehr auf den Menschen - fixieren, | |||||||
alle unsre Weisheit Narrheit sey. | |||||||
daß wir nur darum immer schrecklich irren, weil wir das außer uns | |||||||
suchen, was allein in uns ist. | |||||||
daß wir schlechterdings die innre Natur keiner Sache sondern bloß | |||||||
Relationen derselben auf unsere Bedürfniße kennen können und sollen. | |||||||
daß alle und jede Beschäfftigungen, Schriften, Meditationen, Lesungen | |||||||
Thorheit und Kinderey seyen, die nicht präcise Stillungs= u: | |||||||
Sättigungsmittel menschlicher Bedürfniße sind. | |||||||
daß es offenbar sey, daß unter tausend Büchern, u. zehentausend | |||||||
Beurtheilungen der Bücher kaum Eines etwas anders als vermeyntes | |||||||
Stillungsmittel des Autorbedürfnißes sey, - mit nichten aber auf | |||||||
bestimmte Leser gesehen werde | |||||||
daß - o ich Thor - das alles und zwanzig mal mehr werden Sie so | |||||||
stark, so deütlich, so mit Beyspielen belegt, so menschlich, so popular, | |||||||
so treffend dehmütigend, so epochenmachend sagen - daß ich | |||||||
nichts mehr zuwünschen haben werde. | |||||||
Ich will gern mein Verlangen nach Ihrem Werke an meinem geringen | |||||||
Ort mäßigen, wenn Sie glauben, daß Ihr Werk dadurch reifer | |||||||
u: entscheidender werde. tausend Schriftsteller führen ihre Werke | |||||||
nicht bis zum Epochenmachenden Entscheidungspunkt. Sie sind der | |||||||
Mann dazu. Einsicht, Gelehrsamkeit, Geschmack - und jenes | |||||||
menschliche, das abermal unzähligen Schriftstellern fehlt, u. das | |||||||
die heütige Critick nur nicht in Betrachtung zunehmen, sich einfallen | |||||||
läßt - Charakterisirt Ihre Schriften so sehr, daß ich mir von | |||||||
Ihnen in dieser Absicht mehr als von keinem andern verspreche. | |||||||
Pfenninger, zwar mein Herzensfreünd, wird Ihnen, hoff ich, ausnehmend | |||||||
lieb werden. Seine Vorlesungen haben mir das seltene | |||||||
Gepräge lichtvoller Menschlichkeit - Licht auf Einen Punkt gerichtet, | |||||||
entflammt. Dieß arcanum der Schriftsteller, Redner, Predigerkunst | |||||||
- wie wenige besitzens! | |||||||
Indiscretion ists, ich empfind' es mächtig - aber ich glaube | |||||||
eben so mächtig an Ihre Stärke - Indiscretionen tragen zukönnen, | |||||||
u. Ihre Güte, sie tragen zuwollen - Indiscretion ists, wenn ich | |||||||
Sie bitte, mir zu seiner Zeit, wenn Sie allenfalls den ersten Band | |||||||
meiner vermischten Schriften gelesen haben, nur auf einem Blate, | |||||||
mit aller möglichsten Schärfe, und der diamantesten Redlichkeit zusagen | |||||||
- ob Sie meine eigentliche Meynung vom Glauben und Gebeth | |||||||
für die Schriftlehre halten, oder nicht. Es ist mir nicht kaltes Dogma. | |||||||
Es ist mir innigste Herzenssache. - aber statt zuantworten werden | |||||||
die Leser Nichtleser und Rezensenten (:doch diese sollte man am allerwenigsten | |||||||
unter die Leser zählen :) sich auf der Ferse wegdrehen: u: | |||||||
Lieblingsmeynung! rufen. Das wird dann Antwort seynsollen. | |||||||
So viel ich noch sagen mögte. Ich habe schon zuviel Zeit Ihnen | |||||||
weggeschwazt. Leben Sie wol. Ich bin in einem großen Sinn Ihr | |||||||
aufrichtig ergebner Lavater. | |||||||
Zürich, den 8 April 1774. | |||||||
[ abgedruckt in : AA X, Seite 165 ] [ Brief 89 ] [ Brief 90a ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ] |