Kant: Briefwechsel, Brief 39, An Moses Mendelssohn. |
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An Moses Mendelssohn. | |||||||
8. April 1766. | |||||||
Mein Herr | |||||||
Die gütige Bemühung die Sie in Bestellung einiger überschickten | |||||||
Schriften auf mein ergebenstes Ersuchen zu übernehmen beliebt haben | |||||||
erwiedere ich mit dem ergebensten Dancke und der Bereitwilligkeit zu | |||||||
allen gefälligen Gegendiensten. | |||||||
Die Befremdung die Sie über den Ton der kleinen Schrift äußeren | |||||||
ist mir ein Beweis der guten Meinung die Sie sich von meinem | |||||||
Charakter der Aufrichtigkeit gemacht haben und selbst der Unwille, | |||||||
denselben hierinn nur zweydeutig ausgedrückt zu sehen, ist mir schätzbar | |||||||
und angenehm. In der That werden Sie auch niemals Ursache haben | |||||||
diese Meinung von mir zu ändern denn was es auch vor Fehler geben | |||||||
mag denen die standhafteste Entschließung nicht allemal völlig ausweichen | |||||||
kan so ist doch die wetterwendische und auf den Schein angelegte | |||||||
Gemüthsart dasienige worinn ich sicherlich niemals gerathen | |||||||
werde nachdem ich schon den größesten Theil meiner Lebenszeit hindurch | |||||||
gelernet habe das meiste von demienigen zu entbehren und zu verachten | |||||||
was den Charakter zu corrumpiren pflegt und also der Verlust der | |||||||
Selbstbilligung die aus dem Bewustseyn einer unverstellten Gesinnung | |||||||
entspringt das größeste Übel seyn würde was mir nur immer begegnen | |||||||
könte aber ganz gewiß niemals begegnen wird. Zwar dencke ich vieles | |||||||
mit der allerkläresten Überzeugung und zu meiner großen Zufriedenheit | |||||||
was ich niemals den Muth haben werde zu sagen; niemals aber | |||||||
werde ich etwas sagen was ich nicht dencke. | |||||||
Ich weis nicht ob Sie bey Durchlesung dieser in ziemlicher | |||||||
Unordnung abgefaßten Schrift einige Kennzeichen von dem Unwillen | |||||||
werden bemerkt haben womit ich sie geschrieben habe; denn da ich einmal | |||||||
durch die Vorwitzige Erkundigung nach den visionen des Schwedenbergs | |||||||
sowohl bey Persohnen die ihn Gelegenheit hatten selbst zu kennen | |||||||
als auch vermittelst einiger Correspondenz und zuletzt durch die Herbeyschaffung | |||||||
seiner Werke viel hatte zu reden gegeben so sahe ich wohl | |||||||
daß ich nicht eher vor die unabläßige Nachfrage würde Ruhe haben | |||||||
als bis ich mich der bey mir vermutheten Kenntnis aller dieser | |||||||
Anecdoten entledigt hätte. | |||||||
In der That wurde es mir schweer die Methode zu ersinnen nach | |||||||
welcher ich meine Gedanken einzukleiden hätte ohne mich dem Gespötte | |||||||
auszusetzen. Es schien mir also am rathsamsten andren dadurch zuvorzukommen | |||||||
daß ich über mich selbst zuerst spottete wobey ich auch ganz | |||||||
aufrichtig verfahren bin indem wirklich der Zustand meines Gemüths | |||||||
hiebey wiedersinnisch ist und so wohl was die Erzehlung anlangt ich | |||||||
mich nicht entbrechen kan eine kleine Anhänglichkeit an die Geschichte | |||||||
von dieser Art als auch was die Vernunftgründe betrift einige Vermuthung | |||||||
von ihrer Richtigkeit zu nähren ungeachtet der Ungereimtheiten | |||||||
welche die erstere, und der Hirngespinste und unverstandlichen | |||||||
Begriffe welche die letztere um ihren Werth bringen. | |||||||
Was meine geäußerte Meinung von dem Werthe der Metaphysik | |||||||
überhaupt betrift so mag vielleicht hin und wieder der Ausdruk nicht | |||||||
vorsichtig und beschränkt gnug gewählt worden seyn allein ich verheele | |||||||
gar nicht daß das ich die aufgeblasene Anmaßung gantzer Bände | |||||||
voll Einsichten dieser Art so wie sie jetziger Zeit gangbar sind mit | |||||||
Wiederwillen ja mit einigem Hasse ansehe indem ich mich vollkommen | |||||||
überzeuge daß der Weg den man gewählt hat ganz verkehrt sey da | |||||||
die im Schwang gehende Methoden den Wahn und die Irrthümer | |||||||
ins unendliche vermehren müssen und daß selbst die gänzliche Vertilgung | |||||||
aller dieser eingebildeten Einsichten nicht so schädlich seyn | |||||||
könne als die erträumte Wissenschaft mit ihrer so verwünschten | |||||||
Fruchtbarkeit. | |||||||
Ich bin so weit entfernet die Methaphysik selbst, obiectiv erwogen, | |||||||
vor gering oder entbehrlich zu halten daß ich vornemlich seit einiger | |||||||
Zeit nachdem ich glaube ihre Natur und die ihr unter den Menschlichen | |||||||
Erkentnissen eigenthümliche Stelle einzusehen überzeugt bin daß sogar | |||||||
das wahre und dauerhafte Wohl des Menschlichen Geschlechts auf ihr | |||||||
ankomme, eine Anpreisung die einem jeden andern als Ihnen phantastisch | |||||||
und verwegen vorkommen wird. Solchen genies wie Ihnen mein Herr | |||||||
kommet es zu in dieser Wissenschaft eine neue Epoche zu machen, die | |||||||
Schnur gantz aufs neue anzulegen und den Plan zu dieser noch immer aufs | |||||||
bloße Gerathewohl angebauten disciplin mit Meisterhand zu zeichnen. | |||||||
Was aber den Vorrath vom Wissen betrift der in dieser Art öffentlich feil | |||||||
steht so ist es kein leichtsinniger Unbestand sondern die Wirkung einer | |||||||
langen Untersuchung daß ich in Ansehung desselben nichts rathsamer finde | |||||||
als ihm das dogmatische Kleid abzuziehen und die vorgegebene Einsichten | |||||||
sceptisch zu behandeln wovon der Nutze freylich nur negativ ist | |||||||
(stultitia caruisse) aber zum positiven vorbereitet; denn die Einfalt | |||||||
eines gesunden aber ununterwiesenen Verstandes bedarf um zur Einsicht | |||||||
zu gelangen nur ein organon; die Scheineinsicht aber eines verderbten | |||||||
Kopfs zuerst ein catarcticon. Wenn es erlaubt ist etwas von | |||||||
meinen eigenen Bemühungen in diesem Betracht zu erwähnen, so | |||||||
glaube ich seit der Zeit, als ich keine Ausarbeitungen dieser Art | |||||||
geliefert habe, zu wichtigen Einsichten in dieser disciplin gelangt zu | |||||||
sein, welche ihr Verfahren festsetzen und nicht blos in allgemeinen | |||||||
Aussichten bestehen sondern in der Anwendung als das eigentliche | |||||||
Richtmaas brauchbar sind. Ich schicke mich allmählich an so viel als | |||||||
meine übrige Zerstreuungen es erlauben diese Versuche der öffentlichen | |||||||
Beurtheilung vornemlich aber der Ihrigen vorzulegen wie ich mir den | |||||||
schmeichle daß wenn es Ihnen gefiele Ihre Bemühungen in diesem | |||||||
Stück mit den meinigen zu vereinigen (worunter ich auch die Bemerkung | |||||||
ihrer Fehler mit begreife) etwas Wichtiges zum Wachsthum der | |||||||
Wissenschaft könnte erreicht werden. | |||||||
Es gereicht mir zu keinem gringen Vergnügen zu vernehmen | |||||||
daß mein kleiner und flüchtiger Versuch das Glück haben werde | |||||||
Gründliche Betrachtungen über diesen Punkt von Ihnen herauszuloken | |||||||
und ich halte ihn alsdenn vor nüzlich gnug wenn er zu tieferen Untersuchungen | |||||||
Anderer die Veranlassung geben kan. Ich bin überzeugt | |||||||
das sie den Punkt nicht verfehlen werden auf den sich alle diese Erwägungen | |||||||
beziehen und welchen ich kenntlicher würde bezeichnet haben | |||||||
wenn ich die Abhandlung nicht bogenweise hinter einander hätte abdrucken | |||||||
lassen da ich nicht immer voraussehen konte was zum besseren | |||||||
Verständnisse des folgenden voranzuschicken wäre und wo gewisse | |||||||
Erläuterungen in der Folge wegbleiben musten weil sie an einen | |||||||
Unrechten Ort würden zu stehen gekommen seyn. Meiner Meinung nach | |||||||
kommt alles darauf an die data zu dem Problem aufzusuchen wie ist | |||||||
die Seele in der Welt gegenwärtig sowohl den materiellen | |||||||
Naturen als denen anderen von ihrer Art. Man soll also die | |||||||
Kraft der äußeren Wirksamkeit und die receptivitaet von aussen zu | |||||||
leiden bey einer solchen Substanz finden wovon die Vereinigung mit | |||||||
dem menschl. Korper nur eine besondere Art ist. Weil uns nun keine | |||||||
Erfahrung hiebey zu statten kommt dadurch wir ein solches Subiekt in | |||||||
denen verschiedenen relationen könnten kennen lernen welche einzig und | |||||||
allein tauglich seyn seine äußere Kraft oder Fähigkeit zu offenbaren | |||||||
und die Harmonie mit dem Körper nur das gegenverhältnis des innern | |||||||
Zustandes der Seele (des Denkens u. Wollens) zu dem äußeren Zustande | |||||||
der Materie unseres Korpers mithin kein Verhältniß einer äußeren | |||||||
Thätigkeit zu einer äußeren Thätigkeit entdekt folglich zur Auflösung | |||||||
der quaestion gar nicht tauglich ist so frägt man ob es an sich möglich | |||||||
sey durch Vernunfturtheile a priori diese Kräfte geistiger Substanzen | |||||||
auszumachen. Diese Untersuchung löset sich in eine andere auf ob man | |||||||
nemlich eine primitive Kraft d. i. die erste Grundverhältnis der | |||||||
Ursache zur Wirkung durch Vernunftschlüsse erfinden könne und | |||||||
da ich gewiß bin daß dieses unmöglich sey so folget, wenn mir diese | |||||||
Kräfte nicht in der Erfahrung gegeben seyn, daß sie nur erdichtet | |||||||
werden können. Diese Erdichtung aber (fictio hevristica, hypothesis) | |||||||
kan niemals auch nur einen Beweis der Möglichkeit zulassen und die | |||||||
Denklichkeit (deren Schein daher kommt daß sich auch keine Unmöglichkeit | |||||||
davon darthun läßt) ist ein bloßes Blendwerk wie ich denn die Träumereyen | |||||||
des Schwedenbergs selbst, wenn iemand ihre Möglichkeit angriffe, | |||||||
mir zu vertheidigen getrauete und mein Versuch von der Analogie | |||||||
eines wirklichen sittlichen Einflusses der geistigen Naturen mit der | |||||||
allgemeinen Gravitation ist eigentlich nicht eine ernstliche Meinung | |||||||
von mir sondern ein Beyspiel wie weit man und zwar ungehindert | |||||||
in philosophischen Erdichtungen fortgehen kan wo die data fehlen, | |||||||
und wie nöthig es bey einer solchen Aufgabe sey auszumachen was | |||||||
zur solution des problems nöthig sey und ob nicht die dazu nothwendigen | |||||||
data fehlen. Wenn wir dennoch die Beweisthümer aus der | |||||||
Anständigkeit oder den Göttlichen Zwecken so lange bey Seite setzen | |||||||
und fragen ob aus unseren Erfahrungen iemals eine solche | |||||||
Kentnis von der Natur der Seele möglich sey die da zureiche | |||||||
die Art ihrer Gegenwart im Weltraume sowohl in Verhaltnis | |||||||
auf die Materie als auch auf Wesen ihrer Art daraus zu | |||||||
erkennen so wird sich zeigen ob Geburth (im metaphysischen Verstande) | |||||||
Leben und Tod etwas sey was wir iemals durch Vernunft | |||||||
werden einsehen können. Es liegt hier daran auszumachen ob | |||||||
es nicht hier wirklich Grenzen gebe welche nicht durch die Schranken | |||||||
unserer Vernunft nein der Erfahrung die die data zu ihr enthält | |||||||
festgesetzt seyn. Iedoch ich breche hiemit ab und empfehle mich | |||||||
dero Freundschaft bitte auch dem HE. Prof: Sultzer meine | |||||||
besondere Hochachtung und dem Wunsch, mit seiner gütigen | |||||||
Zuschrift beehrt zu werden, zu entdecken und bin mit der größesten | |||||||
Hochachtung | |||||||
Mein Herr | |||||||
Königsb: | Dero | ||||||
d. 8ten April | ergebenster Diener | ||||||
1766. | I. Kant. | ||||||
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