Kant: Briefwechsel, Brief 248, Von Moses Mendelssohn.

     
           
 

 

 

 

 

 
  Von Moses Mendelssohn.      
           
  den 16. Oct. 1785.      
           
  Verehrungswürdiger Mann!      
  Ich bin so frei gewesen, Ihnen durch den Buchhändler Voß u.      
  Sohn ein Exemplar von meinen "Morgenstunden, oder Vorlesungen      
  über das Daseyn Gottes", zuzuschicken.      
           
  Ob ich gleich die Kräfte nicht mehr habe, Ihre tiefsinnigen Schriften      
  mit der erforderlichen Anstrengung zu studiren, so weiß ich doch, da      
  wir in Grundsätzen nicht übereinkommen. Allein ich weiß auch, da      
  Sie Widerspruch vertragen, ja daß Sie ihn lieber haben als Nachbeten.      
  So wie ich Sie kenne, ist die Absicht Ihrer Critik bloß, das Nachbeten      
  aus der Schule der Philosophie zu verbannen. Sie lassen      
  übrigens einem Ieden das Recht, anderer Meinung zu seyn u. die      
  seinige öffentlich zu sagen.      
           
  Die Veranlassung zur Bekanntmachung dieser Morgenstunden      
  wollte ich mir bis auf den 2ten Theil ersparen, um die Leser zuvörderst      
  auf einige Äußerungen vorzubereiten, die mir in Absicht auf      
  ihre Folgen u. Wirkungen auf das lesende Publikum etwas bedenklich      
  schienen. Hr. Iacobi ist mir zuvorgeeilt, u. hat unter dem Titel:      
  Ueber die Lehre des Spinoza, in Briefen an Moses Mendelssohn,      
  eine Schrift herausgegeben, welche diese Veranlassung enthält.      
  Er macht in derselben einen Briefwechsel zwischen ihm, einer dritten      
  Person u. mir bekannt, in welchem er (Iacobi) darauf ausgeht, unsern      
  Lessing zum erklärten Spinozisten zu machen. Iacobi will ihm      
  den Spinozismus vordemonstrirt haben; Lessing habe alles mit seinen      
  Grundsätzen übereinstimmend gefunden, u. sich gefreut, nach langem      
  Suchen endlich einen Bruder im Pantheismus anzutreffen, der über      
  das System des All= ein= oder Einallerlei so schönes Licht zu verbreiten      
  weiß.      
           
           
  Er für seine eigene Person zieht sich am Ende unter die Kanone des      
  Glaubens zurück, u. findet Rettung u. Sicherheit in einer Bastion des      
  seligmachenden Lavater's, aus dessen "engelreinem" Munde er am      
  Ende seiner Schrift eine trostreiche Stelle anführt, die mir keinen Trost      
  geben kann, weil ich sie nicht verstehe. Überhaupt ist diese Schrift des      
  Hrn Iacobi ein seltenes Gemisch, eine fast monströse Geburt: der Kopf      
  von Göthe, der Leib Spinoza, u. die Füße Lavater.      
           
  Mit welchem Rechte aber man sich jetziger Zeit so allgemein erlaubt,      
  eine Privat=Correspondenz, ohne Anfrage u. Bewilligung von      
  Seiten des Briefschreibenden, öffentlich bekannt zu machen, ist mir      
  unbegreiflich. Noch mehr: Lessing soll ihm, Iacobi nämlich, gestanden      
  haben, daß er mir, seinem vertrautesten, dreißigjährigen philosophischen      
  Freunde, seine wahren philosophischen Grundsätze nie entdeckt habe.      
  Ist dieses, wie hat Iacobi sich dann überwinden können, dieses Geheimni      
  seines verstorbenen Freundes nicht nur mir, vor dem er es      
  geflissentlich verborgen, sondern der ganzen Welt zu verrathen? Seine      
  eigene Person bringt er in Sicherheit, u. verläßt seinen Freund nackt      
  u. wehrlos auf freiem Felde, daß er ein Raub oder ein Spott der      
  Feinde werde. Ich kann mich in dieses Betragen nicht finden, und      
  möchte wissen, was rechtschaffene Männer davon denken. Ich fürchte,      
  die Philosophie hat ihre Schwärmer, die eben so ungestüm verfolgen      
  und fast noch mehr auf das Proselytenmachen gesteuert sind, als die      
  Schwärmer der positiven Religion.      
           
  Moses Mendelssohn.      
           
           
           
     

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