Kant: Briefwechsel, Brief 120, An Marcus Herz. |
|||||||
|
|
|
|
||||
An Marcus Herz. | |||||||
20. Aug. 1777. | |||||||
Wohlgebohrner Herr Doctor | |||||||
Werthester Freund | |||||||
Heute reiset Ihr und, wie ich mir schmeichle, auch mein würdiger | |||||||
Freund Herr Mendelssohn von hier ab. Einen solchen Mann, von | |||||||
so sanfter Gemüthsart, guter Laune und hellem Kopfe in Königsberg | |||||||
zum beständigen und inniglichen Umgange zu haben, würde dieienige | |||||||
Nahrung der Seele seyn, deren ich hier so gänzlich entbehren | |||||||
muß und die ich mit der Zunahme der Iahre vornehmlich vermisse; | |||||||
denn, was die des Körpers betrift, so werden Sie mich deshalb schon | |||||||
kennen, daß ich daran nur zuletzt und ohne Sorge oder Bekümmernis | |||||||
denke und mit meinem Antheil an den Glücksgütern vollig zufrieden | |||||||
bin. Ich habe es indessen nicht so einzurichten gewußt, daß ich von | |||||||
dieser einzigen Gelegenheit, einen so seltenen Mann zu genießen, | |||||||
recht hätte Gebrauch machen können, zum Theil aus Besorgnis ihm | |||||||
etwa in seinen hiesigen Geschäften hinderlich zu werden. Er that mir | |||||||
vorgestern die Ehre zween meiner Vorlesungen beyzuwohnen, a la | |||||||
fortune du pot, wie man sagen könte, indem der Tisch auf einen so | |||||||
ansehnlichen Gast nicht eingerichtet war. Etwas tumultuarisch muß | |||||||
ihm der Vortrag diesmal vorgekommen seyn; indem die durch die | |||||||
ferien abgebrochene praelection zum theil summarisch wiederholt werden | |||||||
muste und dieses auch den größten Theil der Stunden wegnahm; | |||||||
wobey Deutlichkeit und Ordnung des ersten Vortrages großen theils | |||||||
vermißt wird. Ich bitte Sie, mir die Freundschaft dieses würdigen | |||||||
Mannes ferner zu erhalten. | |||||||
Sie haben mir werthester Freund zwey Geschenke gemacht, welche | |||||||
Sie in meinem Andenken, von der Seite des Talents so wohl als | |||||||
des Herzens, so sehr unter allen Zuhörern, die mir das Glük iemals | |||||||
zugeführet hat, auszeichnen, daß, wenn eine solche Erscheinung nicht | |||||||
so äußerst selten wäre, sie vor alle Bemühung eines sonst wenig einträglichen | |||||||
Amts reichliche Belohnung seyn würde. | |||||||
Ihr Buch an Ärtzte hat mir überaus wohl gefallen und wahre | |||||||
Freude gemacht, ob ich gleich an der Ehre, welche es Ihnen erwerben | |||||||
muß, keinen auch nicht entfernten Antheil haben kan. Der | |||||||
beobachtende und praktische Geist leuchtet darinn, unter Ihrer mir | |||||||
schon bekannten Feinheit in allgemeineren Begriffen, so vortheilhaft | |||||||
hervor: daß, wenn Sie fortfahren die Arzneykunst mit der Forschbegierde | |||||||
eines Experimental=philosophen und zugleich mit der gewissenhaftigkeit | |||||||
eines Menschenfreundes zu treiben und ihr Geschäfte zugleich | |||||||
als eine Unterhaltung vor den Geist, nicht blos als Brodkunst anzusehen | |||||||
Sie in kurzem sich unter den Ärtzten einen ansehnlichen | |||||||
Rang erwerben müssen. Ich will den engen Raum dieses Briefes | |||||||
nicht damit anfüllen, die Stellen auszuzeichnen die mir besonders gefallen | |||||||
haben, sondern vielmehr von Ihrer Einsicht und Erfahrenheit | |||||||
einen Vortheil auf mich selbst abzuleiten suchen. | |||||||
Unter verschiedenen Ungemächlichkeiten die meine Gesundheit täglich | |||||||
anfechten und so oftere Unterbrechungen meiner Kopfarbeiten | |||||||
verursachen, von denen Blehungen im Magenmunde die allgemeine | |||||||
Ursache zu seyn scheinen, (wobey ich gleichwohl allen meinen Bekannten | |||||||
eben so gesund vorkomme, als sie mich vor zwanzig Iahren | |||||||
gekannt haben) ist eine Beschwerlichkeit, wowieder ich glaube, da | |||||||
Ihre Kunst ein Hülfsmittel habe: nämlich daß ich zwar nicht eben | |||||||
mit obstructionen geplagt bin, aber gleichwohl ieden Morgen eine so | |||||||
mühsame und gemeiniglich so unzureichende exoneration habe daß die | |||||||
zurük bleibende und sich anhäufende feces, so viel ich urtheilen kan, | |||||||
die Ursache eines benebelten Kopfes und selbst iener Blehungen werden. | |||||||
Hiewieder habe ich (wenn die Natur sich nicht selbst durch eine ausserordentliche | |||||||
evacuation half) etwa binnen einer Zeit von drey Wochen | |||||||
einmal, in gelinde abführenden Pillen Hülfe gesucht, welche sie mir | |||||||
auch bisweilen so wie ich wünschte leisteten, indem sie nur einen | |||||||
ausserordentlichen Sedem beförderten. Die mehreste mal aber wirkten | |||||||
sie eine blos flüßige excretion, ließen die grobe Unreinigkeiten zurück | |||||||
und verursachten mir nur eine darauf folgende Obstruction ausser der | |||||||
Schwächung der Eingeweide welche solche Wasser=abführende purgirmittel | |||||||
iederzeit verursachen. Mein Arzt und guter Freund wuste nichts | |||||||
zu verordnen, was meinem Verlangen genau gemäß wäre. Ich finde | |||||||
aber in Monro's Buch von der Wassersucht eine Eintheilung der Purgirmittel, | |||||||
welche ganz genau meiner idee correspondirt. Er unterscheidet | |||||||
sie nämlich in hydragogische (wasserabführende) und eccoprotische (Kothabführende); | |||||||
bemerkt richtig: daß die erstere schwächen und zählt darunter | |||||||
die resinam Jalappae als das stärkste, Senesblätter aber und rhabarber | |||||||
als schwächere, beyde aber als hydragogische Purgirmittel. Dagegen | |||||||
sind seiner Angabe nach Weinstein= Crystallen und Tamarinden | |||||||
eccoprotisch, mithin meiner Bedürfnis angemessen. HE. Mendelssohn | |||||||
sagt: daß er von diesen letzteren selbst nützlichen Gebrauch gemacht | |||||||
habe und daß es die pulpa der tamarinden sey, welche darinn gegeben | |||||||
werde. Nun besteht mein ergebenstes Ansuchen darinn: mir aus diesen | |||||||
zuletzt erwähnten Mitteln ein recipe zu verschreiben, wovon ich dann | |||||||
und wann Gebrauch machen könne. Die dosis darf bey mir nur gring | |||||||
seyn, weil ich gemeiniglich von einer kleineren als der Arzt mir verschrieb | |||||||
mehr Wirkung verspührte als mir lieb war; doch bitte ich es | |||||||
so einzurichten, daß ich nach Befinden etwas mehr oder weniger davon | |||||||
einnehmen könne. | |||||||
Durch das zweyte Geschenk berauben sie sich selbst einer angenehmen | |||||||
und, wie ich urtheile, auch kostbaren Sammlung, um mir daraus ein | |||||||
Zeugnis der Freundschaft zu machen, die mir desto reizender ist, ie | |||||||
mehr die Ursachen derselben aus den reinen Qvellen einer guten | |||||||
Denkungsart entsprungen sind. Ich habe mit diesen Stücken, welche | |||||||
den guten Geschmak und die Kentnis des Alterthums sehr zu befördern | |||||||
dienen, schon manche meiner Freunde vergnügt und wünsche, daß dieses | |||||||
Vergnügen, welches Sie sich selbst entzogen haben, anderweitig ersetzt | |||||||
werden möge. | |||||||
Seit der Zeit daß wir von einander getrennt sind haben meine | |||||||
ehedem Stückweise auf allerley Gegenstände der philosophie verwandte | |||||||
Untersuchungen systematische Gestalt gewonnen und mich allmählig zur | |||||||
Idee des Ganzen geführt, welche allererst das Urtheil über den Werth | |||||||
und den wechselseitigen Einflus der Theile möglich macht. Allen Ausfertigungen | |||||||
dieser Arbeiten liegt indessen das, was ich die Critik der | |||||||
reinen Vernunft nenne, als ein Stein im Wege, mit dessen Wegschaffung | |||||||
ich iezt allein beschäftigt bin, und diesen Winter damit vollig | |||||||
fertig zu werden hoffe. Was mich aufhält ist nichts weiter, als die | |||||||
Bemühung, allem darinn vorkommenden völlige Deutlichkeit zu geben, | |||||||
weil ich finde: daß, was man sich selbst geläufig gemacht hat und zur | |||||||
größten Klarheit gebracht zu haben glaubt, doch selbst von Kennern | |||||||
misverstanden werde, wenn es von ihrer gewohnten Denkungsart | |||||||
gänzlich abgeht. | |||||||
Eine iede Nachricht von dem Wachsthum Ihres Beyfalls, Ihrer | |||||||
Verdienste und häuslicher Glückseeligkeit, kan niemand mit größere | |||||||
Theilnehmung empfangen als | |||||||
Ihr | |||||||
iederzeit Sie aufrichtig hochschätzender | |||||||
ergebenster Freund u. Diener | |||||||
I Kant | |||||||
Koenigsberg | |||||||
d 2Osten Aug. | |||||||
1777 | |||||||
[ abgedruckt in : AA X, Seite 211 ] [ Brief 119 ] [ Brief 120a ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ] |