Kant: AA XX, Preisschrift über die ... , Seite 262 |
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01 | als bedenkliche Versuche blos gewagt, sondern geschahen mit völliger Zuversicht, | ||||||
02 | ohne vorher über die Möglichkeit der Erkenntnisse a priori sorgsame | ||||||
03 | Untersuchungen anzustellen. Was war die Ursache von diesem Vertrauen | ||||||
04 | der Vernunft zu sich selbst? Das vermeynte Gelingen. Denn in | ||||||
05 | der Mathematik gelang es der Vernunft, die Beschaffenheit der Dinge | ||||||
06 | a priori zu erkennen, über alle Erwartung der Philosophen vortrefflich; | ||||||
07 | warum sollte es nicht eben so gut in der Philosophie gelingen? Daß die | ||||||
08 | Mathematik auf dem Boden des Sinnlichen wandelt, da die Vernunft | ||||||
09 | selbst ihm Begriffe construiren, d.i. a priori in der Anschauung darstellen | ||||||
10 | und so die Gegenstände a priori erlennen kann, die Philosophie | ||||||
11 | hingegegen eine Erweiterung der Erkenntniß der Vernunft durch bloße | ||||||
12 | Begriffe, wo man seinen Gegenstand nicht, so wie dort, vor sich hinstellen | ||||||
13 | kann, sondern die uns gleichsam in der Luft vorschweben, unternimmt, | ||||||
14 | fiel den Metaphysikern nicht ein, als einen himmelweiten Unterschied, in | ||||||
15 | Ansehung der Möglichkeit der Erkenntniß a priori, zur wichtigen Aufgabe | ||||||
16 | zu machen. Genug, Erweiterung der Erkenntniß a priori, auch außer der | ||||||
17 | Mathematik, durch bloße Begriffe, und daß sie Wahrheit enthalte, beweiset | ||||||
18 | sich durch die Übereinstimmung solcher Urtheile und Grundsätze | ||||||
19 | mit der Erfahrung. | ||||||
20 | Ob nun zwar das Übersinnliche, worauf doch der Endzweck der Vernunft | ||||||
21 | in der Metaphysik gerichtet ist, für die theoretische Erkenntniß | ||||||
22 | eigentlich gar keinen Boden hat: so wanderten die Metaphysiker doch an | ||||||
23 | dem Leitfaden ihrer ontologischen Prinzipien, die freylich wohl eines | ||||||
24 | Ursprunges a priori sind, aber nur für Gegenstände der Erfahrung gelten, | ||||||
25 | doch getrost fort, und obzwar die vermeynte Erwerbung überschwenglicher | ||||||
26 | Einsichten auf diesem Wege durch keine Erfahrung bestätigt werden | ||||||
27 | konnte, so konnte sie doch eben darum, weil sie das Übersinnliche betrifft, | ||||||
28 | auch durch keine Erfahrung widerlegt werden: nur mußte man sich wohl | ||||||
29 | in Acht nehmen, in seine Urtheile keinen Widerspruch mit sich selbst einlaufen | ||||||
30 | zu lassen, welches sich auch gar wohl thun läßt, obgleich diese | ||||||
31 | Urtheile, und die ihnen unterliegenden Begriffe, übrigens ganz leer | ||||||
32 | seyn mögen. | ||||||
33 | Dieser Gang der Dogmatiker von noch älterer Zeit, als der des Plato | ||||||
34 | und Aristoteles, selbst die eines Leibnitz und Wolf mit eingeschlossen, ist, | ||||||
35 | wenn gleich nicht der rechte, doch der natürliche nach dem Zweck der | ||||||
36 | Vernunft und der scheinbaren Überredung, daß Alles, was die Vernunft | ||||||
37 | nach der Analogie ihres Verfahrens, womit es ihr gelang, vornimmt, ihr | ||||||
38 | eben so wohl gelingen müsse. | ||||||
39 | Der zweyte, beynahe ebenso alte, Schritt der Metaphysik war | ||||||
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