Kant: AA XVIII, Metaphysik Zweiter Theil , Seite 604

     
           
 

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  01 im Umgange. Ehrlich kan jemand seyn, aber darum ist er nicht auch      
  02 redlich, d. i. Ehrlichkeit aus Grundsatzen (gegen andere); Rech tschaffenheit      
  03 ist noch mehr, nämlich Aufrichtigkeit in Ansehung seiner selbst bey der      
  04 scharfften selbstprüfung. Hiob. Der Schade, der daraus den Wissenschaften      
  05 entspringt, wenn man nicht redlich ist, der Religion, wenn man      
  06 nicht rechtschaffen ist. Was ist warheit?, ist eine logische Frage in der      
  07 Religion, und da ist die Orthodoxie verschieden. Was ist Warhaf tigkeit      
  08 und Rechtschaffenheit?, ist eine practische (moralische) Frage, und da      
  09 kan man leicht einsehen, daß jeder seiner Vernunft und Gewissen folgen      
  10 müsse. Das Materiale der Religion ist: ein besserer Mensch zu seyn,      
  11 das Formale: die Manier und Weise einer Gott ergebenen Gesinu ng anzunehmen      
  12 durch Handlungen, in denen an sich kein Moralischer Gehalt      
  13 ist. Also Formalien als Endzwek oder als Wesen der Religion.      
           
  14 Eide sind Förmlichkeiten, das Gewissen aufzuwecken; sonst sind sie      
  15 als Betheurungen, wie Christus anzeigt, ungereimt. Aber sie haben      
  16 Großen Schaden, wie die Unterschrifften der englischen Geistli chen unter      
  17 die 39 Artikel. Sie machen die Lüge erlaubt, wenn nur nicht geschworen      
  18 ist. Das erste Stück der Erziehung.      
           
  19 Die argumenta a tuto (nichts ist sicher, als was gewissenhaft ist),      
  20 ab vtili, als Warheitsbeweise gebraucht, corrumpiren den Character. Wie      
  21 mancher verbirgt die eigne Ungewisheit und redet laut als entschie den,      
  22 darum weil er zu nutzen meynt. In die Schrift einen Sinn legen, davon      
  23 man nicht gewis ist, daß er darin sey, wenn dieser sinn nur morali sch ist,      
  24 heißt: ihr eine gute Absicht beymessen, welches wir immer verbun den sind      
  25 so lange das Gegentheil nicht bewiesen ist und welches auch das Vornehmste      
  26 ist. Die immer fragen: was Gott thue, um sie seelig zu machen,      
  27 nicht: was sie thun müssen, um der Seeligkeit theilhaftig zu werden,      
  28 glauben immer dadurch, daß sie jenes bekennen und hoch preisen, alles      
  29 ihrer Seits zu thun, um es theilhaftig zu werden, ohne desselben würdig      
  30 zu seyn, also durch Einschmeicheley himmlische Gunst zu erwerben, und      
  31 corrumpiren den Character.      
           
  32 (g Feyerlichkeiten in Religionssachen sind sehr misliche Mittel. Es      
  33 sind Formalien als Geschäfte. Formalien als Methode sind in der      
     

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