Kant: AA XVIII, Metaphysik Zweiter Theil , Seite 319

     
           
 

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  01 dieser Gedanke sey Erfahrung; wohl aber kann dieses gesagt werden,      
  02 wenn ich eine schon gezeichnete Figur in der Wahrnehmung auffasse,      
  03 und die Zusammenfassung des Mannigfaltigen derselben vermittelst der      
  04 Einbildungskraft unter dem Begriff eines Quadrats denke. In der Erfahrung      
  05 und durch dieselbe werde ich vermittelst der Sinne belehrt;      
  06 allein wenn ich ein Object der Sinne mir blos willkührlich denke, so      
  07 werde ich von demselben nicht belehrt und hänge bei meiner Vorstellung      
  08 in nichts vom Objecte ab, sondern bin gänzlich Urheber derselben.      
           
  09 Aber auch das Bewußtseyn, einen solchen Gedanken zu haben, ist      
  10 keine Erfahrung; eben darum, weil der Gedanke keine Erfahrung, Bewußtseyn      
  11 aber an sich nichts Empirisches ist. Gleichwohl aber bringt      
  12 dieser Gedanke einen Gegenstand der Erfahrung hervor oder eine Bestimmung      
  13 des Gemüths, die beobachtet werden kann, sofern es nämlich      
  14 durch das Denkungsvermögen afficirt wird; ich kann daher sagen, ich      
  15 habe erfahren, was dazu gehört, um eine Figur von vier gleichen Seiten      
  16 und rechten Winkel so in Gedanken zu fassen, daß ich davon die Eigenschaften      
  17 demonstriren kann. Dies ist das empirische Bewußtseyn der Bestimmung      
  18 meines Zustandes in der Zeit durch das Denken; das Denken      
  19 selbst, ob es gleich auch in der Zeit geschieht, nimmt auf die Zeit gar      
  20 nicht Rücksicht, wenn die Eigenschaften einer Figur gedacht werden sollen.      
  21 Aber Erfahrung ist, ohne Zeitbestimmung damit zu verbinden, unmöglich,      
  22 weil ich dabei passiv bin un mich nach der formalen Bedingung des      
  23 innern Sinnes afficirt fühle.      
           
  24 Das Bewußtseyn, wenn ich eine Erfahrung anstelle, ist Vorstellung      
  25 meines Daseyns, sofern es empirisch bestimmt ist, d.h. in der      
  26 Zeit. Wäre nun dieses Bewußtseyn wiederum selbst empirisch, so würde      
  27 dieselbe Zeitbestimmung wiederum, als unter den Bedingungen der Zeitbestimmung      
  28 meines Zustandes enthalten, müssen vorgestellt werden. Es      
  29 müßte also noch eine andere Zeit gedacht werden, unter der (nicht in      
  30 der) die Zeit, welche die formale Bedingung meiner innern Erfahrung      
  31 ausmacht, enthalten wäre. Also gäbe es eine Zeit, in welcher und mit      
  32 welcher zugleich eine gegebene Zeit verflösse, welches ungereimt ist. Das      
  33 Bewußtseyn aber, eine Erfahrung anzustellen, oder auch überhaupt zu      
  34 denken, ist ein transscendentales Bewußtseyn, nicht Erfahrung.      
           
     

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