Kant: AA XII, Öffentl. Erklärungen 1797 , Seite 364

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 für die Menschen sei, oder ob auch in ihr Mängel und Irrthümer sich finden lassen      
  02 wie er in der Vorstellungsweise seiner Vorgänger nach seinem dermaligen Gedanken,      
  03 kreise glaube gefunden zu haben. Ihr Stolz, mein Kant! übertrift in Wahrheit      
  04 Alles was bisher Gelehrtenstolz hieß.      
           
  05 Zweitens kann ich es nach meinem Gefühl schlechterdings nicht mit der      
  06 wahren Rechtschaffenheit zusammen reimen, daß Sie mein Lieber! bei dem bis zum      
  07 wirklichen Skandal ausgebrochenen und immer weiter um sich greifenden Streite      
  08 der nach Ihnen sich so nennenden kritischen Philosophen über den Sinn und Geist      
  09 Ihrer Schriften, nicht öffentlich hervortreten, und bestimmt heraussagen welcher von      
  10 diesen Schriftstellern Ihren Sinn wirklich getroffen hat und welcher nicht. ob Reinhold,      
  11 ob Fichte, ob Beck, oder wer sonst es ist. Ich halte es für die strengste      
  12 Pflicht der Rechtschaffenheit, für die unnachläßlichste Pflicht die das höchste Vernunftgesetz      
  13 im ganzen Geisterreiche, die reine Liebe, vorschreibt, daß Sie dies      
  14 schon längst hätten thun sollen, ehe es mit der ärgerlichen Anarchie unter denen      
  15 die sich von Ihrem Namen Kantianer nennen so weit kam als es gekommen ist,      
  16 und daß Sie es wenigstens nun noch ohne Verzug thun, da Beck so große Schwierigkeiten      
  17 in den Geist Ihrer Kritik einzudringen aufstellt, Reinholden weitläuftig      
  18 widerlegt, und sich des einzig möglichen Standpunktes die Kritik der reinen Vernunft      
  19 zu verstehn bemeistert zu haben vorgiebt. Die Männer die sich so über den      
  20 Sinn und Geist Ihrer Schriften zanken, verderben mit diesem unnützen Kriege die      
  21 edle Zeit, die sie zu bessern Zwecken und zu gemeinnützigen Geschäften für das      
  22 wahre Wohl unserer Mitmenschen anwenden könnten, und sollten. Sie erwecken      
  23 und nähren gehässige Gesinnungen wider einander selbst, entehren die Menschheit,      
  24 und machen sich des Namens wahrer Philosophen unwürdig. Daran aber sind      
  25 Sie mein Kant! allein Schuld; und Sie vergrößern Ihre Schuld von Tag zu Tage      
  26 mehr, wenn Sie nicht frei heraus bekannt machen welcher von den Streitern Ihre      
  27 Schriften, wenigstens die Hauptpunkte, wirklich versteht wie Sie solche verstanden      
  28 wissen wollen. Thun Sie es nicht, so führen Sie in Ihrer kritischen      
  29 Philosophie einen neuen Thurm zu Babel auf, an welchem der unendliche Weltrichter      
  30 nicht nur die Sprache sondern auch den Geist Ihrer Mitarbeiter zum Wehe      
  31 der menschlichen Gesellschaft - welch' eine Verantwortung für Sie!! - noch gänzlich      
  32 verwirren und der wahren Weisheit unfähig machen wird, wie es leider! der      
  33 Anfang bereits zeigt.      
           
  34 Drittens kann man eben daraus, daß es Ihnen bisher nicht möglich war      
  35 durch Ihre kritische Schriften Ihre Anhänger und Mitarbeiter in der Art wie die      
  36 gemeinschaftliche Absicht der kritischen Philosophie erreicht werden sollte, einhellig      
  37 zu machen, nach Ihrem eigenen im Anfange der Vorrede zur zweiten Ausgabe      
  38 der Kritik der reinen Vernunft geäußerten Urtheile, immer überzeugt sein:      
  39 daß Ihr kritisches Studium bei weitem noch nicht den sichern Gang einer Wissenschaft      
  40 eingeschlagen, sondern ein bloßes Herumtappen sei.      
           
  41 Diese drei Ursachen wären schon hinlänglich gewesen, mir alles Vertrauen      
  42 auf Ihre kritische Arbeiten zu benehmen, und mir Abneigung zu machen in Ihrer      
  43 Gesellschaft, mein Kant! den Weg der Wahrheit zu suchen und zu durchwandern.      
           
     

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