Kant: AA XII, Briefwechsel 1800 , Seite 304

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 nicht von der Analytik des reinen Verstandes trennen. Dise Schwierigkeit      
  02 giebt auch einen eigenen Einwurf gegen die kritische Philosophie,      
  03 den mir bereits ein Freund gemacht hat, nehmlich, da wir doch die      
  04 Kategorien z. B. die der Causalität u.s.w. gebrauchen um über die      
  05 transsc. Beschaffenheit des Raumes und der Zeit nachzudenken, so ist      
  06 selbst diese Erkenntniß nur Erscheinung, woraus dann folgt, daß wir      
  07 nur genöthigt sind, uns den transsc. Idealismus, als das einzige      
  08 richtige System von der Möglichkeit der Erfahrung vorzustellen,      
  09 nicht aber behaupten können, daß es das wahre System von der Möglichkeit      
  10 der Erfahrung an sich selbst sei. Ich erinnere mich nicht mehr,      
  11 wie mein abwesender Freund sich hierüber ausdrückte, aber das, was      
  12 ich jetzt geschrieben habe, enthält wenigstens seinen Hauptgedanken.      
  13 Er war vor anderthalb Iahren willens das System eines transsc.      
  14 Realismus herauszugeben, doch mit Beibehaltung einer ganzen Reihe      
  15 der wichtigsten Lehren der Critik der rein. Vern. Es ist schade, da      
  16 in der Critik d. r. V. nicht zur Beantwortung dises Einwurfs ein      
  17 Wink gegeben ist. Auf einen besondern Fall angewendet kann man      
  18 disen Einwurf auch so ausdrücken: sagt die Deduction der Kategorien      
  19 nicht durch die Art, wie sie geführt wird: man gebe mir zu, daß ich      
  20 den Begriff der Ursache gebrauchen dürfe, um die Realität dieses Begriffs      
  21 zu zeigen, so will ich die Realität desselben für die Erfahrungserkenntniß      
  22 darthun; und ist das nicht ein Cirkel? Die Schwierigkeit      
  23 liegt freilich nicht in dem kritischen System, sondern in der Natur      
  24 einer sinnlichen und discursiven Erkenntniß. Unsre Erkenntniß a priori      
  25 ist, der Natur unseres Erkenntnißvermögens gemäß, etwas in unserm      
  26 innern Sinn befindliches, und in so fern selbst Erscheinung und wir      
  27 können freilich nicht wissen, was sie an sich seyn mag. Wir können      
  28 daher auch von der Möglichkeit der Erfahrung, als etwas an sich,      
  29 nichts wissen, sondern nur wie sinnlich erkennende Wesen sich die      
  30 Möglichkeit der Erfahrung vorstellen müssen, wie Gott unsre Erfahrungserkenntniß      
  31 sich vorstellt, wissen wir nicht.      
           
  32 Verzeihen Sie verehrungswürdigster Freund, daß ich Sie so weitläuftig      
  33 von einem Gegenstande unterhalten habe, der Ihnen nicht      
  34 fremd ist, der mir aber wichtig ist, weil er mich bisher noch immer      
  35 abgehalten hat, Hand an ein System der Transscendentalphilosophie zu      
  36 legen, das ich gar zu gern zu Stande gebracht sehen möchte. Was      
           
     

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