Kant: AA XII, Briefwechsel 1797 , Seite 191 |
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01 | sobald ich durch Ihre Winke mich überzeugte, daß wir als Geist betrachtet | ||||||
02 | zwar frey wären, und dem Sittengesetz entsprechend handeln | ||||||
03 | könnten u. sollten, daß wir aber als Erscheinungen betrachtet, in so | ||||||
04 | fern wir mit andern Körpern in Verbindung ständen, ganz von den | ||||||
05 | Naturgesetzen der Körperwelt abhängig wären, die von unsern freyen | ||||||
06 | Handlungen, als Ursache und Wirkung unabhängig, einen ganz verschiedenen | ||||||
07 | Gang nähmen. Dieß wäre also das, warum ich Ihnen | ||||||
08 | meine hochachtungsvollste Dankbarkeit darzubringen mich verpflichtet | ||||||
09 | hielt. Ich unterstehe mich noch eine meiner Lieblings =Ideen Ihrer | ||||||
10 | gewiegten Beurtheilung vorzulegen: | ||||||
11 | Ihre wichtige Entdeckung, daß der Glaube an Gott und an Unsterblichkeit | ||||||
12 | einzig und allein aus der Moralität unsrer Handlungen entspringen | ||||||
13 | könne, und daß die Lebendigkeit dieses Glaubens sich nach der | ||||||
14 | Reinheit unsrer Tugend sich erhebe, hat mich zu der Untersuchung geführt, | ||||||
15 | ob wohl im Bewußtseyn Grade sich denken ließen, und ob der | ||||||
16 | Grund von der Lebhaftigkeit deßelben nicht bloß in der Beschaffenheit | ||||||
17 | der Organisation, und dem Spiel der Fibern liege, sondern im Vorstellungsvermögen | ||||||
18 | selbst aufgesucht werden müßte. Da Sie die Vorstellungen | ||||||
19 | von den Größen und Zeit u. Raum als Anschauungen | ||||||
20 | a priori annehmen; so glaube ich ein Merkmal jener Grade des Bewußtseyns | ||||||
21 | in der Möglichkeit entdeckt zu haben, eine reine Größe sich | ||||||
22 | mehr protensiv oder extensiv zu denken. An diese Möglichkeit des | ||||||
23 | Zunehmens der Grade des Bewußtseyns, das eine Anwendung auf | ||||||
24 | alle Categorien leidet, schließt sich nur die große auf das practische | ||||||
25 | Leben einen so wichtigen Einfluß habende Frage an: Ob die Acte | ||||||
26 | unsrer sittlichen Freyheit vielleicht mit dem Steigen der Grade des | ||||||
27 | Bewußtseyns in Verbindung stehen? folglich ob durch unsern freyen | ||||||
28 | Willen, wenn er dem Ideal der Heiligkeit imer näher kömt, nicht unsre | ||||||
29 | Seelenkräfte erhöht werden können. Vielleicht ließen sich dan alle die | ||||||
30 | Instanzen, wo man oft in den leidenschaftlichsten Menschen die hellsten | ||||||
31 | Einsichten, und größten Übersichten der Verhältniße zu finden meynte | ||||||
32 | dadurch heben, daß die Stufe der freywilligen Thätigkeit, nach welcher | ||||||
33 | der Handelnde nach dem Sittengesetz seine Maxime nähme uns unbekannt | ||||||
34 | sey. | ||||||
35 | wie sehr diese Einrichtung der menschlichen Seele den Schöpfer | ||||||
36 | und seine Weisheit als Weltregierer bey seinen Naturgesetzen verherrlichen | ||||||
37 | würde dieß leidet keinen Zweifel. Ohne seine Zwischenvermittlung | ||||||
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