Kant: AA XII, Briefwechsel 1796 , Seite 077

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Anschauung umleuchtet, schreiben, - ausheben, zusammenordnen,      
  02 hier, dort eine einzelne Bemerkung einschieben, und      
  03 so - der Welt ein Werk liefern möchten, betitelt: Kant, sein eigener      
  04 Commentator; ohngefähr so, wie man ein "Leben Friedrichs II." mit      
  05 den eigenen Worten des großen Monarchen hat.      
           
  06 Denn wenn gleich Sie selbst, verehrungswürdiger Lehrer, sich die      
  07 Gabe der Verdeutlichung in einem Ihrer Werke abzusprechen scheinen:      
  08 so glaube ich doch, selbst durch das neuere Studium derselben, mich      
  09 überzeugt zu haben, daß es fast keinen einzigen, noch so schwierigen      
  10 Begriff Ihres Systems in allen seinen Fugen giebt, den Sie nicht,      
  11 in irgend einer Stelle, mit aller möglichen Deutlichkeit dargestellt      
  12 hätten: so daß mir kein Commentar, mit allen Umschreibungen, mit      
  13 aller Ründung des Ausdrucks, an die Evidenz Ihrer eigenen Darstellung      
  14 hinanzureichen geschienen.      
           
  15 Dürfte ich's mir aber erlauben, aus der Ferne, in welcher die      
  16 Ehrfurcht mich, als einen der unbedeutendsten Ihrer Lehrlinge, billig      
  17 hält, Ihnen gleichsam näher zu treten: so würde ich es wagen, Ihnen      
  18 einen Wunsch vorzutragen, von welchem ich weiß, daß ein großer      
  19 Theil gründlicher Denker und Verehrer Ihres Systems ihn in seinem      
  20 Herzen hegt: und dies ist kein andrer, als der: daß der große Stifter      
  21 des kritischen Systems, (der bis dahin fast bei allem Geschrei seiner      
  22 Gegner, - so wie noch vielmehr bei gewissen übertriebenen Lobpreisungen      
  23 jugendlicher Schwärmerei, sehr gleichgültig - ungestört in      
  24 der reinen unbewölkten Region vorurtheilsfreier und leidenschaftloser      
  25 Untersuchung zu verweilen, und immer neue Wahrheiten zu entdecken      
  26 schien, indem man den Werth der alten fälschlich bezweifelte, oder      
  27 auch thöricht überschätzte) daß er es einst würdigen möchte, in einem      
  28 litterarischen Vermächtniß die Welt zu belehren über den Grad      
  29 der Anspruchsfähigkeit einiger der allerneuesten Erweiterungen oder      
  30 Begründungen seines Systems: wofern er anders nicht, vielleicht nur      
  31 desto weiser, beschlossen hat, auch hierüber der Zeit, dieser Mutter der      
  32 Wahrheit, allein nur die Entscheidung zu überlassen.      
           
  33 Das Werk, welches ich hier, mit Ihrem Namen an der Stirne,      
  34 über das ungeheure Ganze Ihres Systems dem philosophischen Publikum      
  35 Teutschlands vorzulegen wage, ist die Frucht der, nach mehr als      
  36 zwölfjährigem Schlummer wieder=erwachten Liebe zur Spekulazion,      
  37 einer Geistesbeschäftigung, die ich von jeher als wesentliche Handleitung      
           
     

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