Kant: AA XII, Briefwechsel 1795 , Seite 020 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
01 | von dem Hange der Vernunft, in aufgeworfenen practischen Fragen | ||||||
02 | selbst die subtilste Prüfung mit Vergnügen einzuschlagen, nicht schon | ||||||
03 | längst Gebrauch gemacht haben. Der unbefangene Verstand junger | ||||||
04 | Leute entdeckt da so leicht die Wahrheit und entscheidet auf der Stelle | ||||||
05 | was Recht ist und daß man aus Pflicht das Gute ausüben müsse, wo | ||||||
06 | der, durch ein erlerntes System verschrobene Kopf manches Gelehrten | ||||||
07 | tausend Bedenklichkeiten findet. Aber auch bey diesen siegt endlich die | ||||||
08 | Wahrheit, wenn man ihnen nur erst die Untauglichkeit ihres Glückseligkeitsystems | ||||||
09 | und den Irrthum, aus den Folgen die Güte ihrer | ||||||
10 | Handlungen bestimmen zu wollen, deutlich vor Augen gestellt hat. | ||||||
11 | Ueberdies hat der Grundsatz, aus Pflicht das Gute zu thun, so viel | ||||||
12 | Herzerhebendes und die von allem sinnlichen Schmuck entkleidete Tugend | ||||||
13 | äußert eine solche Allgewalt auf das Herz der Menschen, daß sie, auch | ||||||
14 | die mit dem Catechismus eingesogenen und durch ihn geheiligten Irrthümer | ||||||
15 | überwältigt. Ich sehe dies an meinen Predigten, welche ich | ||||||
16 | stets nach den Grundsätzen der reinen Sittenlehre abfasse und welche | ||||||
17 | gewiß eben darum, selbst für den gemeinen Mann sehr viel Anzügliches | ||||||
18 | haben und mit Vergnügen gehört werden. Um aber in dieser guten | ||||||
19 | Sache nicht blos allein zu arbeiten, oder wohl gar von meinen Amtsbrüdern | ||||||
20 | gehindert zu werden, so habe ich Beyde zum Studio Ihrer | ||||||
21 | Philosophie hingeführt, die sie jetzt auch mit dem größten Eifer betreiben. | ||||||
22 | Prediger Polnau ist ein junger Mann mit guten Fähigkeiten, | ||||||
23 | die er auch schon auf der Universität durch Ihren Unterricht ziemlich | ||||||
24 | ausgebildet hat. Prediger Heinel, der auch nur erst 38 Iahr alt ist, | ||||||
25 | hatte zwar von Ihren Lehren wenige Begriffe; aber meine mündliche | ||||||
26 | Unterredungen über Ihre Philosophie machten ihn so begierig nach | ||||||
27 | einer näheren Kentniß derselben, daß er sich bereits Ihre Werke angeschaft | ||||||
28 | hat und sie fleißig studirt. - Wollte Gott, daß nur alle Prediger | ||||||
29 | und Schullehrer, auf dem Lande und in den Städten, dergleichen Vorsätze | ||||||
30 | faßten und ausführten! Es würde mit dem menschlichen Geschlechte bald | ||||||
31 | weit besser aussehen. Beym Unterricht des Catechismus müßte schon | ||||||
32 | der Grund gelegt werden. Aber freylich müßten dies nicht die bis | ||||||
33 | jetzt gebräuchlichen Glückseligkeitslehren seyn. Wenn der Mensch in | ||||||
34 | der Iugend schon an eine ungegründete und inconsequente Denkungsart | ||||||
35 | gewöhnt wird, so lernt er nie nach Principien denken und sein Gedankensystem | ||||||
36 | bleibt ohne Fundament und Zusammenhang. Anstatt also | ||||||
37 | im Catechismus von der Frage anzufangen; ob man nicht glücklich | ||||||
[ Seite 019 ] [ Seite 021 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |