Kant: AA XII, Briefwechsel 1795 , Seite 019 |
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663. | |||||||
02 | Von Reinhold Bernhard Iachmann. | ||||||
03 | Marienburg den 30 May | ||||||
04 | 1795. | ||||||
05 | Wohlgeborner Herr Professor! | ||||||
06 | Verehrungswürdigster Lehrer! | ||||||
07 | Schon seit geraumer Zeit bin ich mit mir zu Rathe gegangen, | ||||||
08 | ob ich mich wohl erdreisten sollte, Ihnen theuerster Herr Professor, | ||||||
09 | mit einem Briefe von mir beschwerlich zu fallen. Die Freundschaft, | ||||||
10 | mit welcher Sie mich von jeher beehrten, Ihre thätige Vorsorge für | ||||||
11 | mein Bestes, Ihre so gütige Theilnahme an meinem Schicksal, welche | ||||||
12 | Sie beständig gegen mich äußerten, schienen es mir einerseits zur | ||||||
13 | Pflicht zu machen, Ihnen eine eigenhändige Nachricht von meinem | ||||||
14 | jetzigen Leben zu ertheilen. Andrerseits aber scheute ich mich, die große | ||||||
15 | Zahl von Briefen, mit welchen Sie fast täglich beschwert werden, noch | ||||||
16 | mit meinem unbedeutenden Schreiben zu vermehren. Nur mein Wunsch, | ||||||
17 | Ihnen schriftlich zu versichern, daß ich dem Andenken an Sie und an | ||||||
18 | Ihre mündliche Belehrungen und dem Studio Ihrer Schriften, alle bey | ||||||
19 | meinem Amt noch übrige Stunden gewidmet habe und hieraus eben | ||||||
20 | so viel Freude als Nutzen für mich und andere ziehe, gab den erstern | ||||||
21 | Gründen den Ausschlag und bestimmten mich zur Abfassung dieses | ||||||
22 | Briefes. | ||||||
23 | Gleich bey dem Antritt meines Amtes, welches mir so wohl den | ||||||
24 | Unterricht der Iugend in der Schule, als auch die Belehrung der | ||||||
25 | Gemeine in der Kirche zur Pflicht macht, faßte ich den Vorsatz, Ihre | ||||||
26 | Lehren nach meiner Einsicht und Fähigkeit so viel als möglich auszubreiten; | ||||||
27 | und meine Bemühungen sind bis jetzt schon, nicht ganz | ||||||
28 | ohne Erfolg gewesen. Abgerechnet daß ich so manche Irrthümer im | ||||||
29 | theoretischen Gebrauch der Vernunft durch Anwendung Ihrer Critik | ||||||
30 | der reinen Vernunft wegzuräumen gesucht habe, so ist vorzüglich mein | ||||||
31 | Bestreben gewesen, die Sittenlehre in ihrer Reinigkeit nach Ihren | ||||||
32 | Principien darzustellen. Daß dieses auch bey der Iugend mit gutem | ||||||
33 | Erfolg geschehen könne, davon war ich zwar schon in Koenigsberg aus | ||||||
34 | eigner Erfahrung überzeugt; ich bin es aber jetzt noch mehr. Ich | ||||||
35 | finde nichts gegründeter als Ihre in der Methodenlehre der practischen | ||||||
36 | Vernunft geäußerte Verwunderung, warum die Erzieher der Iugend, | ||||||
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