Kant: AA XI, Briefwechsel 1793 , Seite 421

     
           
 

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  01 Kopfe hegen kann, der Sie nicht sogleich verstehen konnte. Selbst in      
  02 meinem Predigtamte bey einer Dorfgemeinde und in meinem Erziehungsgeschäfte,      
  03 das ich dabey besorge, fühle ich durch die kritische      
  04 Philosophie mich außerordentlich erleichtert. Aber eben darum fand      
  05 ich mich gedrungen, zu dem Publikum in betreff der krit. Philos. schon      
  06 einige Male zu reden. Sie wird hin und wieder so sehr verkannt,      
  07 und zwar bey jetzigen Zeitläuften auf eine sehr gefährliche Art verkannt,      
  08 daß es die Pflicht eines jeden ist, der es mit der Welt wohl      
  09 meint, der dabey Fähigkeit und inneren Beruf in sich fühlt, jene      
  10 großen Ideen, die unser verehrungswürdiger Lehrer erfand, von mancherley      
  11 Seiten darzustellen und in Umlauf zu bringen. Ich habe dieses      
  12 neulich in einer Schrift über Erziehung der Töchter versucht, weil      
  13 Ihre Ideen einer jeden Erziehungstheorie, die zweckmäßig und gründlich      
  14 seyn soll, zum Grunde liegen müssen. Und nun machte ich einen      
  15 andern Versuch in beyliegender Schrift über Religiosität. Verzeihen      
  16 Sie, mein theuerster Lehrer, wenn Ihr dankbarer Schüler Ihnen durch      
  17 Ueberreichung eines Exemplars einen wiewohl bey weitem zu geringen      
  18 Beweis seiner Achtung geben wollte. Vielleicht würdigen Sie diese      
  19 Schrift nur mit einem Blick zu durchlaufen; bemerken Sie dann einigen      
  20 Werth in derselben, so darf ich sie ja ungescheut Ihrem Schutze empfehlen;      
  21 finden Sie hingegen die Unvollkommenheiten überwiegend, so      
  22 bitte ich um nichts weiter, als die Absicht des Verf[assers] gütig zu beurtheilen.      
  23 Auf jeder Seite hätte ich Sie, als Gewährsmann nennen      
  24 müssen, wenn mir das nicht der schuldigen Ehrerbietung zu nahe zu      
  25 treten geschienen hätte, den Namen eines grosen Mannes zu oft im      
  26 Munde zu führen, und ihn vielleicht durch meine Schwächen zu entweihen.      
  27 Damals, wie ich das Werkchen schrieb, hielt ich Sie noch für      
  28 den Verf[asser] der Krit. aller Offenbarung.      
           
  29 Alle Ihre größeren und die meisten Ihrer kleineren mir bekannten      
  30 Schriften habe ich gelesen; nur wünschte ich, und das ist wohl der      
  31 Wunsch des ganzen philosophischen Publikums, Ihre kleineren Schriften      
  32 in einer vollständigen Sammlung zu sehen. Und je mehr ich von      
  33 Ihnen lese, desto mehr wünsche ich von Ihnen zu lesen. Für Ihre      
  34 Verehrer haben Sie immer noch zu wenig geschrieben, ohnerachtet der      
  35 innere Gehalt auch Ihrer kleinsten Abhandlung von unendlicher Wichtigkeit      
  36 ist. Wann erhalten wir Ihre Moral? und Ihre andern      
  37 Systeme? - Ihnen, unschätzbarer Mann, ein heiteres Alter, ein glückliches      
           
     

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