Kant: AA XI, Briefwechsel 1793 , Seite 420 |
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01 | ist, widerstehen? Und gewiß, Sie sehen mir es nach, wenn ich einen | ||||||
02 | Fehler gegen die feine Lebensart begehe und der Bescheidenheit zu | ||||||
03 | nahe trete, um Ihnen zu sagen, daß ich - ewig Ihr Schuldner bin. | ||||||
04 | Wenigstens wäre meine Ruhe zu Grunde gerichtet gewesen, wenn Sie | ||||||
05 | ihr nicht zu rechter Zeit zu Hülfe gekommen, und die traurigen Zweifel | ||||||
06 | des Empirismus, die Antinomieen, woraus mein Geist sich vergebens | ||||||
07 | zu ringen bemühete, durch Ihre Kritik gelöset hätten. Zwar waren | ||||||
08 | die Lehren des Evangeliums mir immer heilig, ich fühlte dabey eine | ||||||
09 | Wahrheit, die ich gerne gegen alle feindlichen Angriffe gesichert gesehen | ||||||
10 | hätte, aber die Entscheidung der Vernunft war mir doch über alles | ||||||
11 | heilig, und eben daher kam ich in das fürchterlichste Gedränge. Zum | ||||||
12 | Glück empfahl mir damals mein Freund Snell in Giesen Ihre Kritik | ||||||
13 | und meine Ruhe ist auf ewig gerettet! O, theurer Mann, mit | ||||||
14 | Thränen in den Augen schreibe ich dieß - könnte ich, könnte ich | ||||||
15 | Ihnen nur die Gefühle meines Herzens zurufen - Gott sey Ihr | ||||||
16 | Lohn! | ||||||
17 | Sie haben keinen neuen Glauben, keine neue Tugend gelehrt, | ||||||
18 | aber Sie haben Ideen eröffnet, welche in einem Zeitalter, da die | ||||||
19 | Philosophie ihre höchste Vermessenheit erreichte, und sich mit der Frivolität | ||||||
20 | verbündete, nur allein die nöthige Stütze geben konnten. Wenn | ||||||
21 | einst eine Geschichte in weltbürgerlicher Absicht nach Ihrer vortrefflichen | ||||||
22 | Idee entworfen wird, dann wird Kants Zeitalter durch einen Glanz | ||||||
23 | hervorstechen, dessen sich die Nachwelt um so mehr freuen muß, je | ||||||
24 | drohender ihr die Gefahr erscheinen wird, worin die vorhergehenden | ||||||
25 | Sophistereyen unsern Welttheil würden gestürzt haben. - Doch hiervon | ||||||
26 | muß ich schweigen. | ||||||
27 | Schon über 6 Iahre sind es, daß ich Ihre Schriften studiert | ||||||
28 | habe. Ich läugne nicht, daß mir dieses Studium Anfangs schwer | ||||||
29 | wurde - wahrscheinlich darum, weil mein Kopf zu viel an die Leibnitz=Wolfische | ||||||
30 | Schule gewöhnt war. Aber jetzt glaube ich Sie völlig | ||||||
31 | zu verstehen, und finde mich nun um so mehr für jenes Studium | ||||||
32 | belohnt. Ia es wird mir oft unbegreiflich, wie man Sie noch mißverstehen | ||||||
33 | kann, und das verleitet mich beynahe zu dem intoleranten | ||||||
34 | Urtheile, daß die Gegner Ihres Systems einige Schuld an ihren | ||||||
35 | Vorurtheilen und Mißverständnissen haben. Doch die gute Sache muß | ||||||
36 | am Ende siegen. Die Resultate Ihrer Philosophie scheinen mir jetzt | ||||||
37 | so natürlich, so plan, daß ich nicht die beste Meinung von meinem | ||||||
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