Kant: AA XI, Briefwechsel 1792 , Seite 332 |
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Text (Kant):
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| 01 | Einer solchen Liebe die allein Tugend (die andere aber blos blinde | ||||||
| 02 | Neigung) ist will sich gänzlich mittheilen und erwartet von Seiten des | ||||||
| 03 | anderen eine eben solche Herzensmittheilung die durch keine mistrauische | ||||||
| 04 | Zurückhaltung geschwächt ist. So sollte es seyn und das fordert das | ||||||
| 05 | Ideal der Freundschaft: Aber es hängt dem Menschen eine Unlauterkeit | ||||||
| 06 | an welche jene Offenherzigkeit, hier mehr dort weniger, einschränkt. | ||||||
| 07 | Uber dieses Hindernis der wechselseitigen Herzensergießung über das | ||||||
| 08 | geheime Mistrauen und die Zurükhaltung welche machen daß man | ||||||
| 09 | selbst in seinem innigsten Umgange mit seinem Vertrauten doch einem | ||||||
| 10 | Theile seiner Gedanken nach immer noch allein und in sich verschlossen | ||||||
| 11 | bleiben muß haben die Alten schon die Klage hören lassen: meine | ||||||
| 12 | lieben Freunde, es giebt keinen Freund! Und doch wird Freundschaft | ||||||
| 13 | aber als das Süßeste was das Menschliche Leben nur immer enthalten | ||||||
| 14 | mag und von wohlgearteten Seelen mit Sehnsucht gewünscht. Kan | ||||||
| 15 | nur in der Offenherzigkeit statt finden | ||||||
| 16 | Von jener Zurückhaltung, aber als dem Mangel dieser Offenherzigkeit | ||||||
| 17 | die man wie es scheint in ihrem ganzen Maaße der menschlichen | ||||||
| 18 | Natur nicht zumuthen darf (weil jedermann besorgt wenn er sich | ||||||
| 19 | vollig entdeckte von dem Andern gering geschätzt zu werden) ist doch | ||||||
| 20 | der Mangel der Aufrichtigkeit als eine Unwarhaftigkeit in wirklicher | ||||||
| 21 | Mittheilung unserer Gedanken noch gar sehr unterschieden. Iene gehört | ||||||
| 22 | zu den Schranken unserer Natur und verdirbt eigentlich noch nicht | ||||||
| 23 | den Character sondern ist nur ein Übel welches hindert alles Gute was | ||||||
| 24 | aus demselben möglich wäre daraus zu ziehen. Diese aber ist eine Corruption | ||||||
| 25 | der Denkungsart und ein positives Böse. Was der Aufrichtige | ||||||
| 26 | aber Zurükhaltende (nicht Offenherzige) sagt ist zwar alles wahr | ||||||
| 27 | nur er sagt nicht die ganze Warheit. Dagegen der Unaufrichtige | ||||||
| 28 | etwas sagt [das] dessen er sich als falsch bewust ist. Die Aussage von | ||||||
| 29 | der letzteren Art heißt in der Tugendlehre Lüge. Diese mag auch | ||||||
| 30 | ganz unschädlich sey[n] so ist sie darum doch nicht unschuldig; vielmehr | ||||||
| 31 | ist sie eine schweere Verletzung der Pflicht gegen sich selbst und zwar | ||||||
| 32 | einer solchen die ganz unerlaslich ist weil ihre Ubertretung die Würde | ||||||
| 33 | der Menschheit in unserer eigenen Person herabsetzt und die Denkungsart | ||||||
| 34 | in ihrer Wurzel angreift denn Betrug macht alles zweifelhaft und | ||||||
| 35 | verdächtig und benimmt selbst der Tugend alles Vertrauen wenn man | ||||||
| 36 | sie nach ihren Äußeren beurtheilen soll. | ||||||
| 37 | Sie sehen wohl daß wenn Sie einen Arzt zu Rathe gezogen | ||||||
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