Kant: AA XI, Briefwechsel 1790 , Seite 208

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 √2 ist durch die mittlere Proportionalzahl zwischen 1 und der gegebenen      
  02 Zahl =2 ausgedrückt. Es ist also auch moglich eine solche Zahl zu      
  03 denken.      
           
  04 Daß nun die mittlere Proportionalgröße zwischen einer die      
  05 = 1 und einer andern welche = 2 ist gefunden werden könne, mithin      
  06 jene kein leerer Begrif (ohne Object) sey, zeigt die Geometrie an der      
  07 Diagonale des Qvadrats. Es ist also nur die Frage warum für      
  08 dieses Qvantum keine Zahl gefunden werden könne welche die Qvantität      
  09 (ihr Verhaltnis zur Einheit) deutlich und vollständig im Begriffe      
  10 vorstellt.      
           
  11 Daß auch daraus, daß jede Zahl als Qvadratzahl von irgend      
  12 einer anderen als Wurzel müsse vorgestellt werden können, nicht folge,      
  13 die letztere müsse rational seyn, d. i. ein auszählbares Verhaltnis zur      
  14 Einheit haben, läßt sich nach dem Satze der Identität, aus dem der      
  15 Aufgabe zum Grunde liegenden Begriffe, nämlich dem zweyer gleichen      
  16 (aber unbestimmten) Factoren zu einem gegebenen Product einsehen;      
  17 denn in diesen ist gar kein bestimmtes Verhaltnis zur Einheit sondern      
  18 nur ihr Verhaltnis zu einander gegeben. - Daß aber diese Wurzel      
  19 gleichwohl in der Zahlreihe, zwischen zwey Gliedern derselben (so      
  20 fern sie z. B. decadisch eingetheilt ist) immer noch ein Zwischenglied      
  21 und in demselben ein Verhaltnis zur Einheit angetroffen wird, folgt      
  22 aus Nr. 1 wenn nämlich ein Glied der Wurzel in dieser Reihe gefunden      
  23 worden. - Daß aber der Verstand, der sich willkührlich den      
  24 Begrif von √ √2 macht, nicht auch den vollständigen Zahlbegrif, nämlich      
  25 durch das rationale Verhaltnis derselben zur Einheit hervorbringen      
  26 könne, sondern sich, gleichsam von einem andern Vermögen geleitet,      
  27 müsse gefallen lassen in dieser Bestimmung eine unendliche Annäherung      
  28 zur Zahl einzuschlagen, das hat in der That die successive Fortschreitung      
  29 als die Form alles Zählens und der Zahlgrößen, also die dieser      
  30 Größenerzeugung zugrunde liegende Bedingung, die Zeit, zum      
  31 Grunde.      
           
  32 Zwar bedarf der bloße Begrif einer Qvadratwurzel aus einer      
  33 positiven Größe √= √a wie ihn die Algebra vorstellt, gar keiner      
  34 Synthesis in der Zeit; eben so auch die Einsicht der Unmöglichkeit der      
  35 Wurzel aus einer negativen Größe √ = √-a (in welcher sich die      
  36 Einheit, als positive Größe, sich zu einer anderen = x ebenso verhalten      
           
     

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