Kant: AA XI, Briefwechsel 1790 , Seite 195 |
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01 | Lange Ungewohnheit benahm mir die Luft Lateinisch zu schreiben und in | ||||||
02 | Französischen und Hochdeutschen Aufsätzen bin ich nicht geübt. Dieses Bedenken | ||||||
03 | verursachte Träghe[it] und Aufschub. Doch kürzlich versicherte mich J. F. Thiele, | ||||||
04 | daß Sie einen holländschen Brief wohl verstehen würden, wenn ich denselben | ||||||
05 | nach dem Hochdeutschen zu beug[en] oder damit zu vermengen wüßte. Hierauf | ||||||
06 | nehme ich die Freiheit Sie mit eine[m] Briefe zu überfallen und biete Ihnen zugleich | ||||||
07 | einige meiner kleinen Aufsätz an, ob sie Ihnen in einer Stunde der Muße | ||||||
08 | Vergnügen machen und Sie auch reizen möchten, Ihre Gedanken über angelegene | ||||||
09 | Sachen dem Publikum klä[rer] mitzutheilen. | ||||||
10 | Lob und Dankbezeugungen übergehe ich absichtlich. Doch von mir selber | ||||||
11 | [muß] ich etwas sagen, um allen Verdacht wegen Partheysucht und Feindseligkeit | ||||||
12 | [von] mir abzuwehren. Von Iugend an war ich gewohnt, mannichmal mit einem | ||||||
13 | Schein von Bitterkeit die Desiderata in den besten Systemen anzuzeigen und die | ||||||
14 | geschicktesten Vorfechter stark zu nöthigen oder einigermaßen aufzubringen, lediglich | ||||||
15 | um nur mehr Licht zu bekommen und es denn mit Danksagung zu genießen; Bedürfnisse | ||||||
16 | zu erkennen zu geben, um glükliche Aufklärungen hervorzulokken, hielt ich | ||||||
17 | für erlaubt, weil ich voraussetzte, daß Andere mehr Einsicht besaßen. Dies sey | ||||||
18 | genung, um meine offenherzige freymüthige und Wahrheitliebende Kritiken - von | ||||||
19 | allen Verdacht einer eklen Partheysucht zu befreien. Als ich ao 1757 die Beschauung | ||||||
20 | der besten Welt schrieb, war ich ein Hochachter der Wolfianschen Philosophie | ||||||
21 | und wünschte nichts herzlicher, als daß die Schwierigkeiten durch einen geübteren | ||||||
22 | Denker au[s] dem Wege möchten geräumet werden; die beykommende Übersetzung | ||||||
23 | habe ich ni[cht] nachgesehen, sende aber dieselbe, um zu zeigen, daß ich mich | ||||||
24 | frühzeitig mit metaphysischen Sachen abgegeben. Ein deutscher im Ütrechtschen | ||||||
25 | wohnhafter Gelehrter HE J. Petsch schrieb dagegen, doch weil er nichts dagegen | ||||||
26 | einbracht als was mir längst bekannt war; habe ich ihm nicht geantwortet und | ||||||
27 | daß um so mehr, weil ich damals Prediger wurde und nunmehro 30 Iahre einem | ||||||
28 | Amte vorgestanden ha[be] welches mit den häußlichen Geschäften und Bekümmerungen | ||||||
29 | mich vom Schreiben abgehalten hat, so daß ich nur kleine und wenige | ||||||
30 | Werkchen herausgegeben habe. Von einigen derselben werde ich kürzlich etwas | ||||||
31 | berichten. De Evidentia ist geschrieben und verschikt ao 1762. Hierin sind allgemeine | ||||||
32 | Betrachtungen über die Metaphysik, besonders wird darin berührt ein Sensus | ||||||
33 | probab: oder communis als unterschieden von der Ratio speculativa also eine | ||||||
34 | Form unsers Verstandes. Dieses ist nicht genung ins Licht gestellt. Den lezten | ||||||
35 | Theil dieser Dissertation müßte ich zurük gehalten haben; es war eine Übersetzung | ||||||
36 | einer Predigt über das von mir gebrauchte Motto. Töllner hat diesen Stoff | ||||||
37 | nachher weitläuftiger abgehandelt. Zu Leiden ao 1766 ist eine Preisschrift gedrukt, | ||||||
38 | worin ich die Lehre vom Sensus moralis zur kenntnis und Beurtheilung | ||||||
39 | meinen Landsleuten näher gelegt habe; ich untersuche darin die argumente von | ||||||
40 | der Indoles Dei oder der Moralitas in Deo und beschreibe die Sanctitas oder | ||||||
41 | Justitia als Sensus moralis in Deo eminenter analogus . Von dieser Dissertation | ||||||
42 | habe ich kein Exemplar übrig. Darauf folgte das argum. a priori . In 1755 | ||||||
43 | schrieb ich eine Dissert. inaugur. über den Gegenstand. In 1756 sahe ich meinen | ||||||
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