Kant: AA XI, Briefwechsel 1790 , Seite 156 |
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01 | so habe ich die Bedingungen so gemacht, daß ich so wenig als möglich | ||||||
02 | von meiner Freiheit eingebüßt habe; ich kann so viel Vorlesungen | ||||||
03 | halten, als ich will; bin zu keinen Lehrstunden mit dem Grafen verpflichtet, | ||||||
04 | ich brauche ihn bei seinen Vergnügungen und in Gesellschaften | ||||||
05 | nicht zu begleiten, habe aber doch alle seine Vergnügungen zu bestimmen. | ||||||
06 | Der junge Graf ist zwar nur das einzige Kind, aber doch | ||||||
07 | nicht verzogen; der Minister hat keinen Ministerstolz und die Gräfin | ||||||
08 | mischt sich nicht in meine Angelegenheiten. Ich habe vollkommen freie | ||||||
09 | Station, das Gehalt ist aber noch nicht bestimmt, wahrscheinlich 150 | ||||||
10 | oder 200 rthlr. | ||||||
11 | Was mich aber noch weit unabhängiger vom Minister macht, ist, | ||||||
12 | daß ich Lehrer der königlichen Prinzen Heinrich und Willhelm und der | ||||||
13 | Prinzessin Auguste geworden bin. Der Prinz Heinrich und die Prinzessin | ||||||
14 | Auguste erhalten wöchentlich jeder 3 Stunden in der physischen | ||||||
15 | Geographie, der Prinz Willhelm nach meinem Willen 2 auch 3 Stunden | ||||||
16 | in der Arithmetik. Der Gehalt ist vom Könige noch nicht bestimmt, | ||||||
17 | wird aber in einigen Wochen bestimmt werden. Ich glaube auf diese | ||||||
18 | Art am ersten dereinst unabhängig leben zu können, da mit dem | ||||||
19 | Unterricht der königlichen Kinder gewöhnlich eine lebenslängliche | ||||||
20 | Pension verknüpft ist. Prinz Heinrich ist ein aufgeweckter Kopf und | ||||||
21 | sehr lernbegierig, Prinz Willhelm ist noch ganz Kind und die Prinzessin | ||||||
22 | Auguste hört mich mit Aufmerksamkeit an. - Man arbeitet | ||||||
23 | jetzt daran, mir wo möglich, den Unterricht des Prinzen Louis in der | ||||||
24 | Philosophie zu verschaffen. | ||||||
25 | Diese Verbindung mit dem Hofe habe ich größtentheils der Baronesse | ||||||
26 | von Bielefeld, der Oberhofmeisterin der Prinzessin Auguste zu | ||||||
27 | danken, der ich Privatvorlesungen über die Anthropologie halte; der | ||||||
28 | Kanzler von Hoffmann hat auch das Seinige dazu beigetragen. Was | ||||||
29 | werden Sie aber sagen, wenn ich Ihnen erzähle, daß eine junge, schöne | ||||||
30 | Dame, den das ist die Baronesse von Bielefeld, es wagt, in die Geheimnisse | ||||||
31 | Ihres Systems einzudringen, daß sie den Unterschied der | ||||||
32 | analytischen und synthetischen Urtheile, der Erkenntnisse a priori und | ||||||
33 | a posteriori , die Theorie von Raum und Zeit, sich nicht blos hat vortragen | ||||||
34 | laßen, sondern wirklich gefaßt hat. Noch mehr aber werden | ||||||
35 | Sie sich wundern, wenn ich Ihnen sage, daß sie sich nicht mit der | ||||||
36 | Philosophie beschäftigt, um dadurch zu glänzen, denn sie ist über alle | ||||||
37 | Vorstellung bescheiden, und bei unserm Hofe glänzt man durch Philosophie | ||||||
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