Kant: AA XI, Briefwechsel 1789 , Seite 030

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 der Moral nach zu forschen. Ihre moralischen Grundsätze haben mich      
  02 zu Ihrem Anhänger gemacht. Zwar unterstehe ich mich noch nicht,      
  03 über Ihr ganzes philosophisches System ein Urtheil zu fällen. Ich      
  04 hatte zwar die verwichnen Erndte=Ferien dem Studio Ihrer Kritik      
  05 der reinen Vernunft gewidmet; aber meine Geschäfte riefen mich eher      
  06 in die Stadt, als ich es vermuthete, und ich habe also diese wichtige      
  07 Lektüre stückweise in den wenigen Augenblicken, welche mir meine Geschäfte      
  08 übrig lassen, vollenden müssen. Daraus habe ich so viel gelernt,      
  09 daß ich die wunderlichen Begriffe, die sich manche von Ihrem System      
  10 machen, wiederlegen kann, und ich habe mir selbst daraus ein System      
  11 gebildet, wovon ich jedoch nicht mit Gewisheit weiß: ob es mit dem      
  12 Ihrigen überall übereinstimmt. Könnte ich diesen Sommer 4 Wochen      
  13 zu meiner Disposition haben, so würde es mir vielleicht gelingen, den      
  14 Geist Ihrer Philosophie ganz zu fassen.      
           
  15 Inzwischen scheint mir die Richtigkeit Ihrer praktischen Grundsätze      
  16 so einleuchtend zu seyn, daß ich sie angenommen habe, ehe ich mit      
  17 Ihrer Critik der reinen Vernunft bekannt geworden bin. Ich bin      
  18 sehr frühzeitig auf den Gedanken gekommen, daß die Moral von der      
  19 Theologie nicht abhängig seyn könne. Ich habe in meinem Vaterlande      
  20 von Kindheit an viele Menschen kennen gelernt, die besser dachten und      
  21 handelten, als es die Lehren ihrer Kirche mit sich brachten, und die      
  22 sich, ohne gelehrt zu seyn, schlechtweg auf die Aussprüche der gesunden      
  23 Vernunft beriefen; in dem sie kurzweg sagten: Man müßte ja ein      
  24 Taugenichts seyn, wenn man anders handeln wollte. Dieß fiel mir      
  25 so auf, daß ich auch nachher bey Erziehung meiner Kinder immer von      
  26 dem Grundsatze ausgegangen bin: werde kein Taugenichts! oder      
  27 welches eben so viel ist: Handle der Würde Deiner Natur gemäß!      
           
  28 Längst hatte ich auch im Naturrechte den Grundsatz angenommen:      
  29 Nur der, welcher die Freyheit anderer stört, kann durch Zwang davon      
  30 zurückgehalten werden. Dieser Grundsatz gründet sich auf die Gleichheit      
  31 der Rechte und also auf die Würde der menschlichen Natur. Mein      
  32 System des Naturrechts verträgt sich also mit keinem besser, als dem      
  33 Ihrigen.      
           
  34 Ich wünschte, daß Ew. Wohlgebohren die überschickte kleine Schrift      
  35 einiger Aufmerksamkeit würdigten und mir, wenn es ohne Nachtheil      
  36 Ihrer gemeinnützigen Arbeiten geschehen kann, Ihre Gedanken darüber      
  37 gelegentlich eröffneten. Geben Sie sich nicht erst die Mühe Ihren      
           
     

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