Kant: AA X, Briefwechsel 1788 , Seite 528

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 von etwas Uebersinnlichem zu beweisen, durch die Furcht beunruhiget      
  02 hat, daß ich mir damit etwas müßte aus den Händen      
  03 winden laßen, das ich so lange in dem sichersten Besitze fest zu haben      
  04 glaubte und daran mir zu viel gelegen ist, als daß ich es jemal mit      
  05 Gleichgültigkeit sollte verlieren können, so muß ich es darauf ankommen      
  06 laßen, ob diese alte Art der Sicherheit von Andern beßer geschützt      
  07 werden, oder ich mich mit dem Beweise aus dem Bedürfniße, zu      
  08 einer immer völligern Beruhigung, familiarisiren kann.      
           
  09 Desto mehr hergegen hat das meiner Seele wohl gethan, was      
  10 Sie, vortrefflicher Mann, in Ansehung des Grundes der Moralität in      
  11 ein so helles und ehrwürdiges Licht gesetzt haben. Schon in meinen      
  12 jüngern Iahren konnte ich mich mit dem Glückseligkeitsprincipium in      
  13 der Sittenlehre nie recht vereinigen. Es blieb mir durchaus unmöglich,      
  14 die Begriffe: Kluger Mensch und guter Mensch in meiner Empfindung      
  15 zusammen zu schmelzen und gerade für einerley zu halten.      
  16 Eine geraume Zeit hindurch schien der Glaube an Shaftesbury's      
  17 und Hutcheson's schimmerndes System vom moralischen Sinn      
  18 mich hiebey zufrieden zustellen; aber es war nur ein Einschläfern.      
  19 Die Vorstellung von mehreren ursprünglichen, unabhäng[ig]en Seelenkräften      
  20 ward mir nach und nach immer schwerer zu unterhalten; und      
  21 ob ich gleich die Sache durch den allgemeinen Begriff von einer durch      
  22 die Natur uns eingepfla[n]tzten Neigung zur Vollkommenheit, Schicklichkeit,      
  23 Ordnung, zu vereinfachen, und darunter auch die Ueber[ein]stimmung      
  24 der Gesinnungen mit den wesentlichen Verhältnißen der Dinge einzufaßen      
  25 suchte, so konnte ich es doch damit nie völlig zur Deutlichkeit      
  26 und aufs Reine bringen. Daraus - und das ist auch der einzige      
  27 Zweck dieser meiner, sonst sehr unnützen, Gedankengeschichte - sollen      
  28 Sie nur sehen, Höchstgeschätzter Herr Profeßor, wie viel ich an meinem      
  29 Theile Ihnen dafür Dank weiß, daß Sie die Tugend in ihrer wahren,      
  30 nackten und desto ehrfurchtwürdigern Schönheit, als Recht und Gesetzmäßigkeit,      
  31 auf den ihr gebührenden höchsten Thron fest gesetzt      
  32 und jeden noch so liebkosenden Usurpator davon verdrängt haben.      
           
  33 Entschuldigen Sie diese so wenig sagende Weitläuftigkeit, und      
  34 nehmen Sie nur die aufrichtige Versicherung der ausgezeichnetesten      
  35 Hochachtung an, mit welcher ich bin      
           
  36   Ew. Wohlgebohren      
  37 Berlin am 8 Febr: ganz ergebener Diener      
  38 1788 I. Spalding.      
           
           
           
     

[ Seite 527 ] [ Seite 529 ] [ Inhaltsverzeichnis ]