Kant: AA X, Briefwechsel 1786 , Seite 449 |
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| 01 | sie philosophisch zu behandeln lernte mir Ihre Aufklärung darüber | ||||||
| 02 | schäzen, so brachte ich vor einigen Iaren 3 Tage umsonst damit zu, | ||||||
| 03 | discursive zu erweisen daß 2 gerade Linien keinen Raum einschließen | ||||||
| 04 | können. Ebenso gieng es mir aber auch oft mit der mathematischen | ||||||
| 05 | Methode in der Philosophie, ich fand nach her daß die Dialektik wodurch | ||||||
| 06 | ich mich hatte täuschen lassen darin bestünde, daß die Philosophie | ||||||
| 07 | in so ferne sie durch Worte ausgedrükt wird, eben so wol Constructiv | ||||||
| 08 | ist als die Mathematik und daß, da man also von verständlichen | ||||||
| 09 | Worten zu verständlichen Säzen fortgehen muß, es scheint als wäre | ||||||
| 10 | die mathematische Methode auch auf Erkentniß aus Begriffen anwendbar. | ||||||
| 11 | Die reine Mathematik ist mir völlig klar, doch fand ich noch | ||||||
| 12 | nicht Zeit mir die höhere geläufig zu machen. Da ich nie in Willens | ||||||
| 13 | hatte förmlich zu studieren so streifte in den Wissenschaften nach | ||||||
| 14 | meinem Gefallen herum, die Medicin zog meine Aufmerksamkeit am | ||||||
| 15 | meisten auf sich sonderlich der therapevtische Teil und ich wagte so gar | ||||||
| 16 | praktischen Rat und jederzeit mit Glük. Theologie und Iurisprudenz | ||||||
| 17 | war ich jederzeit gram so wie jeder positiven Wissenschaft. Die dogmatische | ||||||
| 18 | Theologie verlor sich immer mer bey mir je mer ich an meiner | ||||||
| 19 | moralischen Besserung arbeitete, bis ich meiner Vernunft die Aufgabe | ||||||
| 20 | machte mich völlig zu beruhigen und da fand ich dann daß schlechterdings | ||||||
| 21 | kein Kennzeichen möglich sey wodurch wir etwas mit Gewisheit | ||||||
| 22 | als Offenbarung ansehen könten, ich habe diesen Beweis etwas in | ||||||
| 23 | schulgerechte Form gebracht. Nun bin ich beschäftigt eine Kritik über | ||||||
| 24 | Spinosa zu liefern, weil er jezt wieder auferwekt worden. ist. Ich bin | ||||||
| 25 | noch völlig unbestimmt und dürfte fast in jede Fuge des Schiksals | ||||||
| 26 | passen nur nicht wo mir Freyheit und Aufrichtigkeit zu Verbrechen | ||||||
| 27 | würden, entscheiden Sie über mich ich bin auf ewig | ||||||
| 29 | Aufrichtigster Schüler und Freund | ||||||
| 30 | Ioh: Benjamin Erhard. | ||||||
| 31 | N. S. Sprachen waren meine Neigung nie ich verstehe daher von der | ||||||
| 32 | Lateinischen italienischen französisch und englischen Sprache nur | ||||||
| 33 | so viel als zu Bücher lesen und Uebersezen nötig ist. Doch hoffe | ||||||
| 34 | ich diesen Sommer es auch in der Griechischen so weit zu bringen. | ||||||
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