Kant: AA X, Briefwechsel 1785 , Seite 426 |
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01 | noch lange nicht dahin, daß die reine Vernunft sich daran laben könnte. | ||||||
02 | Was diese noch so sorgfältig glättet und ründet erscheint in der Anwendung | ||||||
03 | nur zu oft voller Ecken und Rauhigkeiten. Der empirische | ||||||
04 | Arzt, dessen Herz nie an der Vernunft hängt ist in sich fast der glücklichste. | ||||||
05 | Die Urtheile des Haufens gründen sich auf Erfolge, die doch | ||||||
06 | nicht immer in der Macht des Künstlers stehen; sein Beyfall und | ||||||
07 | Mißfallen fließt größtentheils aus den unreinsten Quellen, aus Neid | ||||||
08 | und Eifersucht, aus Aberglauben und Gemüthsschwäche, aus vorgefaßter | ||||||
09 | Gunst und Mißgunst, aus Vorurtheil für oder wider Gesichtszüge, | ||||||
10 | Stimme, Gebehrden, Kleidung, Ansehen u. s. w. Kurz, der ganze | ||||||
11 | Werth und Unwerth den er dem Künstler beylegt beruhet auf außerwesentliche | ||||||
12 | zufällige Dinge, über die Studium und Vernunft nichts | ||||||
13 | vermögen. Und das beständige Durcharbeiten durch diese Schwirigkeiten | ||||||
14 | ist allerdings sehr beschwerlich und macht den empfindsamen | ||||||
15 | Menschen mißmüthig und übellaunisch. Doch genug hiervon! | ||||||
16 | Bey der Besorgung der empirischen Mittel für Ihren kranken | ||||||
17 | Freund hat sich ein ganz besonderer Zufall ereignet. Ich ging gleich | ||||||
18 | den Tag nach dem Empfang Ihres Briefes zu dem Afterarzt hin. | ||||||
19 | Ich hatte ihn vor einem halben Iahr an einem Fieber in der Kur | ||||||
20 | u. bin seitdem ein Art Vertrauter von ihm geworden. Ich las ihm | ||||||
21 | den Brief vor u. er versprach mir binen einigen Tagen seine Seife | ||||||
22 | u. seinen Spiritus nebst schriftliche Gebrauchsregeln zu schicken. Ich | ||||||
23 | schickte zu ihm, u. es war noch nichts fertig, und endlich gestern zum | ||||||
24 | dritten male, bekam ich von seiner Schwester die Antwort: Kuno ist | ||||||
25 | gestern gestorben, u. sie habe unmöglich jezo Zeit die Sachen zu praepariren:. | ||||||
26 | Er war einer der gemeinsten Empiriker, so wie einer der | ||||||
27 | gemeinsten Menschen überhaupt. Charlatan konnte man ihn nicht | ||||||
28 | nennen, er machte eben nicht viel Aufhebens von seiner Wissenschafft. | ||||||
29 | war auch nicht sehr bekümert sich mehr damit zu erwerben als er | ||||||
30 | zu seinem Brandwein nöthig hatte den er von Morgen bis Abend | ||||||
31 | trank, und der ihm vermuthlich auch den plötzlichen Tod zuwege gebracht. | ||||||
32 | Er war daher der nachläßigste Kerl, er hatte nie von seinen | ||||||
33 | Künsteleyen Etwas vorräthig, sondern er mußte sie immer erst zubereiten | ||||||
34 | wenn man sie haben wollte. Aber ich muß es zu seinem | ||||||
35 | Ruhme sagen, daß er Zusammensetzungen besaß die vortreflich waren, | ||||||
36 | und mit denen er viele Elende, die alle Aerzte aufgegeben, half. Seine | ||||||
37 | Schwester ist nun die Besitzerin seiner Arcana, und in einigen Tagen | ||||||
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