Kant: AA X, Briefwechsel 1784 , Seite 385

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 nicht sollte geirrt haben können. Allein bisweilen kann ein Irthum,      
  02 aus einer edlern Quelle entspringen, als selbst die Warheit. Partheiligkeit      
  03 kann mich hier gegen den Ungenannten hinreißen: Aber nach      
  04 meiner gegenwärtigen Überzeugung, kann ich nicht begreifen, daß sein      
  05 Irthum sollte aus unedler Quelle hergekommen seyn: die unmittelbare      
  06 Quelle war nicht unedel; allein ich will ihn nun nicht deswegen ganz      
  07 vertheidigen und entschuldigen, wenn er durch Schwächen und Blößen      
  08 in den vorhergehenden Zeiten Anlaß dazu gegeben, daß er in eine      
  09 solche Seelen=Lage kam, daß dem innern Verhältniß seiner Empfindungen      
  10 nach, jener Entschluß, eine nothwendige Modifikation seiner      
  11 Seele wurde - aber o dies war eine series catena rerum ! Der      
  12 Grund hievon lag in seinem ganzen Geschik: Sie müßten die Geschichte      
  13 der Empfindungen und der Umstände des Ungenannten von seinem      
  14 8ten Iahre an wißen - O wünschen Sie ihm mit mir, daß er nur      
  15 einige Iahre Ruhe izt genüßen möge, damit er alle seine geistigen      
  16 und moralischen Kräfte, die so lange Zeit durch ein Fieber herumgerißen      
  17 worden - daß sie sich oft mehr durch Konvulsionen, als      
  18 ordentliche Bewegungen des Lebens äußern können - zusammenfaßen,      
  19 ganz sich in seinem Innersten zusammenhalten könne, um seinem innern      
  20 und äußern Daseyn, eine gewiße Konsistenz zu geben: Wie kann ein      
  21 Embryo im Mutterleibe ganz ausgeboren werden, wenn die Natur      
  22 immer in ihren dahin arbeitenden Würkungen gestört wird? - Mögten      
  23 Sie doch ganz in die Seele des Ungenannten - mögten Sie doch      
  24 ganz in meine Seele lesen können, indem ich dieses hier niederschreibe! ! !      
  25      
           
  26 So lange noch Leben und Kraft in einem Wesen ist, sucht es der      
  27 Zerstörung seiner Existenz entgegen zu arbeiten: ein Moralisches Wesen      
  28 muß schon der Verwesung nahe seyn, wenn es nicht mehr seiner Zerstörung      
  29 entgegen arbeitet: Sie wißen, in welchem nahen Verhältniß      
  30 ich mit dem Ungenannten stehe: wenn ich denn ia sollte partheiisch      
  31 in seiner Vertheidigung seyn, so glauben Sie, daß die Kräfte seiner      
  32 moralischen Existenz gewißermaßen im Aufruhr sind, um befürchteten      
  33 Zerstörungen entgegen zu arbeiten. - Der Ungenannte weiß fast von      
  34 keinen Freuden und Glückseeligkeiten des Lebens, nur diesen einzigen      
  35 Trost, diese einzige Nahrung seiner Seele wünscht er zu seiner unentbehrlichen      
  36 Erhaltung: die wahre Achtung einiger wenigen Edlen zu      
  37 genüßen: Seine Seele sucht sich aus ihrem excentrischen Lauf, in den      
           
     

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