Kant: AA X, Briefwechsel 1784 , Seite 376

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 ich dabei noch erwähnen: Sollten Eheleute unmoralisch handeln, wenn      
  02 sie bei schon geschehener Empfängniß, demohnerachtet fortfahren, diesen      
  03 physischen Trieb der Liebe zu befriedigen, da von nun an durch denselben,      
  04 der Zwek der Zeugung nicht mehr kann erreicht werden? Ich      
  05 glaube dies Beispiel paßt auf den Ungenannten: denn wenn es moralisches      
  06 Gesez ist, bei der Befriedigung dieses NaturTriebes, blos unmittelbar      
  07 den Zwek der Zeugung zu erzielen, so handeln Eheleute unmoralisch,      
  08 wenn sie noch fortfahren die Werke der Liebe zu treiben, da      
  09 der Zwek der Zeugung nicht mehr erreicht werden kann. - Wenn aber      
  10 der Ungenannte hierin würklich geirrt, so glaube ich nicht, daß man die      
  11 Quelle dieses Irthums in seinem Herzen - in seiner moralischen Verdorbenheit      
  12 suchen müße. Er muß damahls (:überhaupt war zu dermahliger      
  13 Zeit seine Seelen=Lage ganz außerordentlich; und es dürften      
  14 wenige ähnliche Beispiele unter andern Menschen aufgefunden werden      
  15 können, um mit ihnen seinen Gemüths=Zustand zu vergleichen:) gewiß      
  16 nicht geglaubt haben, daß er hierin einen moralisch wichtigen Irthum      
  17 hege; dies läßt sich aus seinem ganzen Betragen, das er beobachtete,      
  18 darthun: So sehr auch Iemand ein Bösewicht seyn mag, so wird er      
  19 doch, wenn er äußerlich noch nicht ganz als Schurke demaskirt ist,      
  20 noch immer einen gewißen Schein vom rechtschaffenen Manne zu affektiren      
  21 suchen, und sich daher nie in seinen innersten Gesinnungen blos      
  22 geben, nehmlich, ganz offenbar seine bösartigen Gesinnungen von sich      
  23 bekennen. Der Ungenannte hingegen entdekte sich in dieser Gesinnung,      
  24 einem angesehenen Manne: Nun ist nur einer von beiden Fällen möglich:      
  25 entweder, der Ungenannte muß der einfältigste Mensch von der      
  26 Welt seyn, der nicht begreift, daß er sich der bittersten Verachtung      
  27 aussezt, wenn er schlechte Grundsäzze entdekt; oder, er muß der unverschämteste      
  28 Bösewicht seyn, der es in der Fühllosigkeit und Frechheit      
  29 schon soweit gebracht, daß Schande und Ehre ihm gleich viel sind:      
  30 Ich glaube nicht, daß der Ungenannte auf irgendeine Weise zu dem      
  31 Verdacht Anlaß gegeben: ihn entweder für einen ganz einfältigen      
  32 Menschen, oder für einen ausgemachten Schurken zu halten. - Auch      
  33 die Absicht, kann der Ungenannte, bei dieser gegen HErrn H. (:dem      
  34 bewußten angesehenen Mann:) von sich gethanen Erklärung, nicht gehabt      
  35 haben: sich etwa dadurch von den Ansprüchen los zu machen, die      
  36 die Person, wenn sie in ihrer Aussage fortführe, gegen ihn machen      
  37 könnte: denn ihm mußte bekannt seyn, daß die Gesezze auf dergleichen      
           
     

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