Kant: AA X, Briefwechsel 1783 , Seite 332

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 demselben herrscht, so großen Scharfsinn auch der Zusammenhang verräth,      
  02 in welchen die Ausdrücke derselben gebracht worden, doch oft die      
  03 in der Wissenschaft selbst vorgenommene Reform, oder die Abweichung      
  04 von den Gedanken andrer, noch größer erscheinen mache, als sie wirklich      
  05 ist.      
           
  06 Sie fordern Ihren Recensenten auf, von jenen widersprechenden      
  07 Sätzen einen so zu erweisen, daß der gegenseitige nicht eines gleich      
  08 guten Beweises fähig sey. Diese Aufforderung kan meinen Gottingischen      
  09 Mitarbeiter angehn, nicht mich. Ich bin überzeugt, daß es in unsrer      
  10 Erkentniß Gränzen gebe; daß sich diese Gränzen eben dann finden,      
  11 wenn sich aus unsern Empfindungen, solche wiedersprechende Sätze, mit      
  12 gleicher Evidenz entwickeln lassen. Ich glaube, daß es sehr nützlich      
  13 ist, diese Gränzen kennen zu lernen, u. sehe es als eine der gemeinnützigsten      
  14 Absichten Ihres Werks an, daß sie dieselben deutlicher u.      
  15 vollständiger als noch geschehen, auseinandergesetzt haben. Aber das      
  16 sehe ich nicht ein, wie Ihre Critik der reinen Vernunft, dazu beytrage,      
  17 diese Schwierigkeiten zu heben. Wenigstens ist der Theil Ihres Buchs,      
  18 worinn sie die Widersprüche ins Licht setzen, ohne Vergleich klärer u.      
  19 einleuchtender, (und dieß werden Sie selbst nicht läugnen,) als derjenige,      
  20 wo die Principien festgestellt werden sollen, nach welchen diese      
  21 Widersprüche aufzuheben sind.      
           
  22 Da ich jetzt, auch auf der Reise u., ohne Bücher bin, und weder      
  23 Ihr Werk noch meine Recension zur Hand habe: so betrachten Sie      
  24 das, was ich hier darüber sage, bloß als flüchtige Gedanken, über      
  25 welche Sie selbst nicht zu strenge urtheilen müssen. Habe ich hier, habe      
  26 ich in meiner Recension, Ihre Meynung u. Absicht unrichtig vorgestellt,      
  27 so ist es, weil ich sie unrecht gefaßt habe, oder mein Gedächtniß mir      
  28 ungetreu ist. Den bösen Willen die Sache zu verstellen, habe ich nicht,      
  29 u. bin desselben nicht fähig.      
           
  30 Zuletzt muß ich Sie bitten, von dieser Nachricht keinen öffentlichen      
  31 Gebrauch zu machen. Ohnerachtet mir die Verstümmelung meiner      
  32 Arbeit, in den ersten Augenblicken, da ich sie erfuhr, eine Beleidigung      
  33 zu seyn schien: so habe ich sie demohnerachtet, dem Manne, welcher sie      
  34 nöthig gefunden, völlig vergeben: theils weil ich durch die Vollmacht,      
  35 welche ich ihm ertheilt, selbst daran Schuld bin; theils weil ich außerdem      
  36 Ursache habe ihn zu lieben u. hochzuschätzen. Und doch müßte      
  37 er es als eine Art von Rache ansehn, wenn ich bey Ihnen dagegen      
           
     

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