Kant: AA X, Briefwechsel 1775 , Seite 180 |
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Text (Kant):
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| 01 | Was Ihre Auffoderung betrift über die Gedanken (in den | ||||||
| 02 | Verm: Schriften vom Glauben und Gebeth mein Urtheil zu sagen so | ||||||
| 03 | besteht es in folgendem. Das wesentliche und vortreflichste von der | ||||||
| 04 | Lehre Christi ist eben dieses: daß er die Summe aller Religion darinn | ||||||
| 05 | setzte Rechtschaffen zu seyn aus allen Kräften im Glauben d. i. einem | ||||||
| 06 | unbedingten Zutrauen daß Gott alsdenn das übrige Gute was nicht | ||||||
| 07 | in unserer Gewalt ist ergänzen werde. Diese Glaubenslehre verbietet | ||||||
| 08 | alle Anmaßung die Art wie Gott dieses thue wissen zu wollen | ||||||
| 09 | imgleichen die Vermessenheit dasienige aus eignem Dünkel zu bestimmen | ||||||
| 10 | was in Ansehung der Mittel seiner Weisheit am gemäßesten | ||||||
| 11 | seye alle Gunstbewerbungen nach eingeführten gottesdienstlichen Vorschriften | ||||||
| 12 | und läßt von dem unendlichen Religionswahn wozu die | ||||||
| 13 | Menschen zu allen Zeiten geneigt seyn nichts übrig als das allgemeine | ||||||
| 14 | und unbestimte Zutrauen daß uns dieses Gute auf welche Art es auch | ||||||
| 15 | sey zu Theil werden solle wenn wir so viel an uns ist uns durch | ||||||
| 16 | unser Verhalten dessen nur nicht unwürdig machen. | ||||||
| 101. | |||||||
| 18 | Von Iohann Heinrich Kant mit Nachschrift seiner Frau. | ||||||
| 19 | 13. Mai 1775 | ||||||
| 20 | Mein liebster Bruder! | ||||||
| 21 | Es wird ein Jahr wenigstens ein Iahr seyn, daß ich keine Zeile | ||||||
| 22 | an dich geschrieben, und keine von dir gesehen habe. Du wirst mich | ||||||
| 23 | sehr, und mit Recht getadelt haben. Ich bin an die Mietausche große | ||||||
| 24 | Schule als Conrector placiret worden, ohne dir davon Nachricht zu | ||||||
| 25 | geben. Nun dieses war Nachläßigkeit, zum Theil aber auch überhäufte | ||||||
| 26 | Geschaffte die mich immer daran behindert haben. Ietzt habe | ||||||
| 27 | ich die wichtigste Veränderung meines Lebens gemacht, ich bin verheyrathet. | ||||||
| 28 | Die Einkünfte meines Posten sind mäßig, sie reichen nur | ||||||
| 29 | eben zu, die Bedürfnisse des Lebens damit zu bestreiten, und dennoch | ||||||
| 30 | habe ich einen Schritt gewagt, den man sonst nicht thut ohne noch | ||||||
| 31 | etwas mehr als aisances zu haben, oder sie sich selbst durch die Heyrath | ||||||
| 32 | zu verschaffen. Meine Freundin hat viel äußere Reitze, und einen | ||||||
| 33 | liebenswürdigen Character, aber kein Vermögen, und doch habe ich sie | ||||||
| 34 | gewählt, bloß aus Liebe gewählt, und hoffe an ihrer Hand, durch alle | ||||||
| 35 | Klippen des Lebens, zufrieden und glücklich durchzukommen. | ||||||
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