Kant: AA X, Briefwechsel 1775 , Seite 178

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Was ich vorher neutestamentische Satzungen nannte, darunter      
  02 verstehe ich alles, wovon man nur durch historische Nachricht Uberzeugung      
  03 bekommen kan und was gleichwohl zur confession oder      
  04 Observantz als eine Bedingung der Seeligkeit anbefohlen wird. Unter      
  05 dem moralischen Glauben verstehe ich das unbedingte Zutrauen auf      
  06 die göttliche Hülfe, in Ansehung alles guten, was, bey unsern redlichsten      
  07 Bemühungen, doch nicht in unserer Gewalt ist. Von der      
  08 Richtigkeit und der Nothwendigkeit des moralischen Glaubens kan ein      
  09 ieglicher, nachdem er ihm einmal eröfnet ist, aus sich selbst, ohne      
  10 historische Hülfsmittel überzeugt werden, ob er gleich ohne solche Eröfnung      
  11 von selbst darauf nicht würde gekommen seyn. Nun gestehe      
  12 ich frey: daß in Ansehung des historischen unsere neutestamentische      
  13 Schriften niemals in das Ansehen können gebracht werden, daß wir      
  14 es wagen dürften ieder Zeile derselben mit ungemessenem Zutrauen      
  15 uns zu übergeben und vornemlich dadurch die Aufmerksamkeit auf      
  16 das Eintzig nothwendige, nemlich den moralischen Glauben des      
  17 Evangelii zu schwächen, dessen Vortreflichkeit eben darinn besteht, da      
  18 alle unsre Bestrebung auf die Reinigkeit unserer Gesinnung und die      
  19 gewissenhaftigkeit eines guten Lebenswandels zusammengezogen wird;      
  20 doch so daß das heilige Gesetz uns iederzeit vor augen liege und uns      
  21 iede auch die kleinste Abweichung von dem göttlichen Willen als verurtheilt      
  22 von einem unnachtsicht[lich]lichen und gerechten Richter unaufhörlich      
  23 vor halte, wowieder keine Glaubensbekentnisse, Anrufungen      
  24 heiliger Nahmen, oder Beobachtung gottesdienstlicher Observanzen      
  25 etwas helfen können, aber gleichwohl die tröstliche Hofnung gegeben      
  26 wird: daß, wenn wir in Vertrauen auf die uns unbekante und geheimnisvolle      
  27 gottliche Hülfe, so viel gutes thun als in unsrer Gewalt      
  28 ist, wir ohne alle verdienstliche Werke (des cultus von welcher Art er      
  29 auch sey) dieser Ergänzung sollen theilhaftig werden. Nun fällt es      
  30 sehr in die Augen: daß die Apostel diese Hülfslehre des Evangelii      
  31 vor die Grundlehre desselben genommen haben, und, was vielleicht      
  32 wirklich von Seiten Gottes der Grund unserer Seeligkeit seyn      
  33 mag, vor den Grund unseres zur Seeligkeit nöthigen Glaubens      
  34 gehalten haben und, an statt des heiligen Lehrers praktische Religionslehre      
  35 als das wesentliche anzupreisen, die Verehrung dieses Lehrers.      
  36 selbst und eine Art von Bewerbung um Gunst durch Einschmeichelung      
  37 und Lobeserhebung desselben, wowieder iener, doch so nadrücklich und      
           
     

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