Kant: AA X, Briefwechsel 1772 , Seite 132 |
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01 | Erkentnis suchte, ohne die man die Natur u. Grentzen der metaphysic | ||||||
02 | nicht bestimmen kan, brachte ich diese Wissenschaft in wesentlich unterschiedene | ||||||
03 | Abtheilungen und suchte die transscendentalphilosophie, | ||||||
04 | nemlich alle Begriffe der gäntzlich reinen Vernunft, in eine gewisse | ||||||
05 | Zahl von categorien zu bringen, aber nicht wie Aristoteles, der sie | ||||||
06 | so, wie er sie fand, in seinen 10 praedicamenten aufs bloße Ungefehr | ||||||
07 | neben einander setzte; sondern so wie sie sich selbst durch einige wenige | ||||||
08 | Grundgesetze des Verstandes von selbst in classen eintheilen. Ohne | ||||||
09 | mich nun über die gantze Reihe der bis zu dem letzten Zwek fortgesetzten | ||||||
10 | Untersuchung weitläuftig hier zu erklären, kan ich sagen da | ||||||
11 | es mir, was das wesentliche meiner Absicht betrift gelungen sey, und | ||||||
12 | ich itzo im Stande bin eine Critick der reinen Vernunft, welche die | ||||||
13 | Natur der theoretischen so wohl als practischen Erkentnis, so fern sie | ||||||
14 | blos intellectual ist, enthält vorzulegen wovon ich den ersten Theil, | ||||||
15 | der die Qvellen der Metaphysic, ihre Methode u. Grentzen enthält, | ||||||
16 | zuerst und darauf die reinen principien der Sittlichkeit ausarbeiten | ||||||
17 | und was den erstern betrift binnen etwa 3 Monathen herausgeben | ||||||
18 | werde. | ||||||
19 | In einer Gemüthsbeschäftigung von so zärtlicher Art ist nichts | ||||||
20 | hinderlicher, als sich mit Nachdencken, das ausser diesem Felde liegt | ||||||
21 | stark zu beschäftigen. Das Gemüth muß in den ruhigen oder auch | ||||||
22 | glücklichen Augenblicken iederzeit und ununterbrochen zu irgend einer | ||||||
23 | zufälligen Bemerkung, die sich darbiethen möchte, offen obzwar nicht | ||||||
24 | immer angestrengt seyn. Die Aufmunterungen u. Zerstreuungen | ||||||
25 | müssen die Kräfte desselben in der Geschmeidigkeit und Beweglichkeit | ||||||
26 | erhalten, wodurch man in Stand gesetzt wird den Gegenstand | ||||||
27 | immer auf andren Seiten zu erblicken und seinen Gesichtskreis von | ||||||
28 | einer mikroscopischen Beobachtung zu einer allgemeinen Aussicht zu | ||||||
29 | erweitern, damit man alle erdenkliche Standpunkte nehme, die wechselsweise | ||||||
30 | einer das optische Urtheil des andern verificire. Keine andre | ||||||
31 | Ursache als diese, mein werther Freund, ist es gewesen, die meine | ||||||
32 | Antworten auf Ihre mir so angenehme Briefe zurükgehalten hat; | ||||||
33 | denn Ihnen leere zu schreiben schien von Ihnen nicht verlangt zu | ||||||
34 | werden. | ||||||
35 | Was Ihr, mit Geschmack und tiefem Nachsinnen geschriebenes, | ||||||
36 | Werkchen betrift so hat es in vielen Stücken meine Erwartung | ||||||
37 | übertroffen. Ich kan mich aber aus schon angeführten Ursachen | ||||||
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