Kant: AA X, Briefwechsel 1770 , Seite 109

     
           
 

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  01 wegen der Principien wenige Widersprüche und überhaupt Beyfall      
  02 finden. Nur scheint es, daß hiezu Zeit und Gedult nöthig sey.      
           
  03 In Ansehung des 5ten Abschnittes werde ich dermalen kurz seyn.      
  04 Ich sehe es als etwas sehr wichtiges an, wenn Euer HochEdelgeb.      
  05 Mittel finden können, in den an Zeit und Ort gebundenen Wahrheiten      
  06 tiefer auf ihren Grund und Ursprung zu sehen. Sofern aber      
  07 dieser Abschnitt auf die Methode geht, so fern habe ich das vorhin      
  08 von der Zeit gesagte, auch hier zu sagen. Denn sind die Veränderungen      
  09 und damit auch die Zeit und Dauer etwas reelles,      
  10 so scheint zu folgen, daß die im 5ten Abschnitt vorgeschlagene      
  11 Absönderung andere und theils näher bestimmte Absichten      
  12 haben müße, und diesen gemäß dürfte sodann auch die Classification      
  13 anders zu treffen seyn. Dieses gedenke ich bei dem § 25. 26. In      
  14 Ansehung des § 27. ist das Quicquid est, est alicubi et aliquando ,      
  15 theils irrig theils vieldeutig, wenn es soviel sagen will als in tempore      
  16 et in loco. Was absolute dauert ist nicht in tempore, und die Gedankenwelt      
  17 ist nur in loco des vorhin erwähnten Simulachri des Raumes      
  18 oder in loco des Gedankenraums.      
           
  19 Was Euer HochEdelgb. § 28, so wie in der Anmerkung S. 2. 3.      
  20 vom Mathematischen Unendlichen sagen, daß es in der Metaphysic      
  21 durch Definitionen verdorben und ein anderes dafür eingeführt worden,      
  22 hat meinen völligen Beyfall. In Ansehung des § 28. erwähnten      
  23 Simul esse et non esse , denke ich, daß auch in der Gedankenwelt ein      
  24 Simulachrum temporis vorkomme, und das Simul daher entlehnt sey,      
  25 wenn es bey Beweisen absoluter Wahrheiten vorkömmt, die nicht an      
  26 Zeit und Ort gebunden sind. Ich dächte, das Simulacrum spatii et      
  27 temporis in der Gedankenwelt, könnte bey Dero vorhabenden Theorie      
  28 ganz wohl mit in Betrachtung kommen. Es ist eine Nachbildung des      
  29 wirklichen Raums und der wirklichen Zeit, und läßt sich davon ganz      
  30 wohl unterscheiden. Wir haben an der Symbolischen Kenntnis noch      
  31 ein Mittelding zwischen dem empfinden und wirklichen reinen Denken.      
  32 Wenn wir bey Bezeichnung des einfachen und der Zusammensetzungsart      
  33 richtig verfahren, so erhalten wir dadurch sichere Regeln, Zeichen      
  34 von so sehr zusammengesetzten Dingen heraus zu bringen, daß wir sie      
  35 nicht mehr überdenken können, und doch versichert sind, daß die      
  36 Bezeichnung Wahrheit vorstellt. Noch hat sich niemand alle Glieder      
  37 einer unendlichen Reyhe zugleich deutlich vorgestellt und niemand wird      
           
     

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