Kant: AA X, Briefwechsel 1766 , Seite 063 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
01 | wenn wir Lücken, Sprünge und Circul vermeyden. Mir kömmt vor, | ||||||
02 | es seye immer ein unerkannter Hauptfehler der Philosophen gewesen, | ||||||
03 | daß sie die Sache erzwingen wollten, und anstatt etwas unerörtert | ||||||
04 | zu lassen, sich selbst mit Hypothesen abspeiseten, in der That aber | ||||||
05 | dadurch die Entdeckung des Wahren verspäthigten. | ||||||
06 | Die Methode, die Sie, Mein Herr, in ihrem Schreiben anzeigen | ||||||
07 | ist ohne alle Wiederrede die einige, die man sicher und mit | ||||||
08 | gutem Fortgange gebrauchen kann. Ich beobachte sie ungefehr auf | ||||||
09 | folgende Art, die ich auch in dem letzten Hauptstücke der Dianoiologie | ||||||
10 | vorgetragen. 1° Zeichne ich in kurzen Sätzen alles auf, was mir über | ||||||
11 | die Sache einfällt, und zwar so und in eben der Ordnung, wie es | ||||||
12 | mir einfällt, es mag nun für sich klar, oder nur vermuthlich, oder | ||||||
13 | zweifelhaft, oder gar zum Theil einander wiedersprechend seyn. | ||||||
14 | 2°. Dieses setze ich fort, biß ich überhaupt merken kann, es werde sich | ||||||
15 | nun etwas daraus machen lassen. 3° Sodann sehe ich, ob sich die | ||||||
16 | einander etwann zum Theil widersprechende Sätze, durch nähere Bestimmung | ||||||
17 | und Einschränkung vereinigen laßen, oder ob es noch dahin | ||||||
18 | gestellt bleibt, was davon beybehalten werden muß. 4°. Sehe ich, | ||||||
19 | ob diese Sammlung von Sätzen zu einem oder zu mehrern Ganzen | ||||||
20 | gehören. 5°. Vergleiche ich sie, um zu sehen, welche von einander abhängen, | ||||||
21 | und welche von den andern vorausgesetzt werden, Und dadurch | ||||||
22 | fange ich an sie zu numerotiren. 6°. Sodann sehe ich, ob die ersten | ||||||
23 | für sich offenbar sind, oder was noch zu ihrer Aufklärung und genauern | ||||||
24 | Bestimmung erfordert wird, und eben so 7°. was noch erfordert | ||||||
25 | wird, um die Übrigen damit in Zusammenhang zu bringen. 8°. Überdenke | ||||||
26 | ich sodann das Ganze, theils um zu sehen, ob noch Lücken | ||||||
27 | darinn sind oder Stücke mange[l]n, theils auch besonders um | ||||||
28 | 9°. die Absichten aufzufinden, wohin das ganze System dienen | ||||||
29 | kann, und 10°. zu bestimmen, ob noch mehr dazu erfordert wird. | ||||||
30 | 11°. Mit dem Vortrage dieser Absichten mache ich sodann gemeiniglich | ||||||
31 | den Anfang, weil dadurch die Seite beleuchtet wird, von | ||||||
32 | welcher ich die Sache betrachte. 12°. Sodann zeige ich, wie ich zu | ||||||
33 | den Begriffen gelange, die zum Grunde ligen, Und warum ich sie | ||||||
34 | weder weiter noch enger nehme. Besonders suche ich dabey 13°. das | ||||||
35 | Vieldeutige in den Worten und Redensarten aufzudecken, und beyde, | ||||||
36 | wenn sie in der Sprache vildeutig sind, vieldeutig zu lassen, das will | ||||||
37 | sagen, ich gebrauche sie nicht als Subiecte sondern höchstens nur als | ||||||
[ Seite 062 ] [ Seite 064 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |