Kant: AA X, Briefwechsel 1759 , Seite 022 |
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01 | Fortsetzung. | ||||||
02 | Von erwachsenen Leuten auf Kinder zu schlüßen; so traue ich den | ||||||
03 | letzteren mehr Eitelkeit als uns zu, weil sie unwissender als wir sind. | ||||||
04 | Und die catechetischen Schriftsteller legen vielleicht, diesem Instinct gemäß, | ||||||
05 | die albernsten Fragen dem Lehrer, und die klügsten Antworten | ||||||
06 | dem Schüler in den Mund. Wir müssen uns also dem Stolz der | ||||||
07 | Kinder wie Iupiter sich der aufgeblasenen Iuno bequemen, die er nicht | ||||||
08 | anders als in der Gestalt eines vom Regen triefenden und halbtodten | ||||||
09 | Gugucks um die Pflicht ihrer Liebe angesprochen haben soll, unterdessen | ||||||
10 | er zu seinen Galanterien sehr anständige und sinnreiche Verkleidungen | ||||||
11 | wählte. | ||||||
12 | Das größte Gesetz der Methode für Kinder besteht also darinn, | ||||||
13 | sich zu ihrer Schwäche herunterzulaßen; ihr Diener zu werden, wenn | ||||||
14 | man ihr Meister seyn will; ihnen zu folgen, wenn man sie regieren | ||||||
15 | will; ihre Sprache uud Seele zu erlernen, wenn wir sie bewegen | ||||||
16 | wollen die unsrige nachzuahmen. Dieser practische Grundsatz ist aber | ||||||
17 | weder möglich zu verstehen, noch in der That zu erfüllen, wenn | ||||||
18 | man nicht, wie man im gemeinen Leben sagt, einen Narren an | ||||||
19 | Kindern gefressen hat, und sie liebt, ohne recht zu wissen: warum? | ||||||
20 | Fühlen Sie unter Ihren Schooßneigungen die Schwäche einer solchen | ||||||
21 | Kinderliebe; so wird Ihnen das Aude sehr leicht fallen, und das | ||||||
22 | sapero auch flüßen; so können Sie, H. H. in Zeit von sechs Tagen sehr | ||||||
23 | gemächlich der Schöpfer eines ehrlichen, nützlichen und schönen Kinderwerks | ||||||
24 | werden, das aber kein T - - dafür erkennen, geschweige daß ein | ||||||
25 | Hofmann oder eine Phyllis aus Erkenntlichkeit Sie dafür umarmen wird. | ||||||
26 | Diese Betrachtungen gehen darauf hinaus, Sie zu bewegen, da | ||||||
27 | Sie auf keinen andern Plan ihrer Naturlehre sinnen, als der schon | ||||||
28 | in jedem Kinde, das weder Heyde noch Türke ist, zum Grunde liegt, | ||||||
29 | und der auf dle Cultur Ihres Unterrichts gleichsam wartet. Der | ||||||
30 | beste, den Sie an der Stelle setzen könnten, würde menschliche Fehler | ||||||
31 | haben, und vielleicht größere, als der verworfene Eckstein der mosaischen | ||||||
32 | Geschichte oder Erzählung. Da er den Ursprung aller Dinge in sich | ||||||
33 | hält; so ist ein historischer Plan einer Wissenschaft immer besser als | ||||||
34 | ein logischer, er mag so künstlich seyn als er wolle. Die Natur nach | ||||||
35 | den sechs Tagen ihrer Geburt ist also das beste Schema für ein Kind, | ||||||
36 | das diese Legende ihrer Wärterin so lange glaubt, bis es rechnen, | ||||||
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