Kant: AA IX, Immanuel Kant über ... , Seite 486 |
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| 01 | Bekleidung müssen sie nur als Nothdurft erhalten. Aber auch die Eltern | ||||||
| 02 | müssen für sich keinen Werth darauf setzen, sich nicht spiegeln, denn hier | ||||||
| 03 | wie überall ist das Beispiel allmächtig und befestigt oder vernichtet die | ||||||
| 04 | gute Lehre. | ||||||
| 05 | Von der praktischen Erziehung. |
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| 06 | Zu der praktischen Erziehung gehört 1) Geschicklichkeit, 2) Weltklugheit, | ||||||
| 07 | 3) Sittlichkeit. Was die Geschicklichkeit anbetrifft, so muß | ||||||
| 08 | man darauf sehen, daß sie gründlich und nicht flüchtig sei. Man muß nicht | ||||||
| 09 | den Schein annehmen, als hätte man Kenntnisse von Dingen, die man | ||||||
| 10 | doch nachher nicht zu Stande bringen kann. Die Gründlichkeit muß in | ||||||
| 11 | der Geschicklichkeit statt finden und allmählich zur Gewohnheit in der | ||||||
| 12 | Denkungsart werden. Sie ist das Wesentliche zu dem Charakter eines | ||||||
| 13 | Mannes. Geschicklichkeit gehört für das Talent. | ||||||
| 14 | Was die Weltklugheit betrifft: so besteht sie in der Kunst, unsere | ||||||
| 15 | Geschicklichkeit an den Mann zu bringen, d. h. wie man die Menschen zu | ||||||
| 16 | seiner Absicht gebrauchen kann. Dazu ist mancherlei nöthig. Eigentlich | ||||||
| 17 | ist es das letzte am Menschen; dem Werthe nach aber nimmt es die zweite | ||||||
| 18 | Stelle ein. | ||||||
| 19 | Wenn das Kind der Weltklugheit überlassen werden soll: so muß es | ||||||
| 20 | sich verhehlen und undurchdringlich machen, den Andern aber durchforschen | ||||||
| 21 | können. Vorzüglich muß es sich in Ansehung seines Charakters verhehlen. | ||||||
| 22 | Die Kunst des äußern Scheines ist der Anstand. Und diese Kunst muß | ||||||
| 23 | man besitzen. Andere zu durchforschen ist schwer, aber man muß diese | ||||||
| 24 | Kunst nothwendig verstehen, sich selbst dagegen undurchdringlich machen. | ||||||
| 25 | Dazu gehört das Dissimuliren, d. h. die Zurückhaltung seiner Fehler, und | ||||||
| 26 | jener äußere Schein. Das Dissimuliren ist nicht allemal Verstellung und | ||||||
| 27 | kann bisweilen erlaubt sein, aber es grenzt doch nahe an Unlauterkeit. | ||||||
| 28 | Die Verhehlung ist ein trostloses Mittel. Zur Weltklugheit gehört, da | ||||||
| 29 | man nicht gleich auffahre; man muß aber auch nicht gar zu lässig sein. | ||||||
| 30 | Man muß also nicht heftig, aber doch wacker sein. Wacker ist noch unterschieden | ||||||
| 31 | von heftig. Ein Wackerer ( strenuus ) ist der, der Lust zum Wollen | ||||||
| 32 | hat. Dieses gehört zur Mäßigung des Affectes. Die Weltklugheit ist für | ||||||
| 33 | das Temperament. | ||||||
| 34 | Sittlichkeit ist für den Charakter. Sustine et abstine , ist die Vorbereitung | ||||||
| 35 | zu einer weisen Mäßigkeit. Wenn man einen guten Charakter | ||||||
| 36 | bilden will: so muß man erst die Leidenschaften wegräumen. Der Mensch | ||||||
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