Kant: AA IX, Immanuel Kant über ... , Seite 474  | 
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| 01 | Zerstreuungen müssen nie, am wenigsten in der Schule gelitten werden, | ||||||
| 02 | denn sie bringen endlich einen gewissen Hang dazu, eine gewisse Gewohnheit | ||||||
| 03 | hervor. Auch die schönsten Talente gehen bei Einem, der der Zerstreuung | ||||||
| 04 | ergeben ist, zu Grunde. Wenn Kinder sich gleich bei Vergnügungen | ||||||
| 05 | zerstreuen: so sammeln sie sich doch bald wieder; man sieht sie | ||||||
| 06 | aber am meisten zerstreut, wenn sie schlimme Streiche im Kopfe haben, | ||||||
| 07 | denn da sinnen sie, wie sie sie verbergen oder wieder gut machen können. | ||||||
| 08 | Sie hören dann Alles nur halb, antworten verkehrt, wissen nicht, was sie | ||||||
| 09 | lesen usw. | ||||||
| 10 | Das Gedächtniß muß man frühe, aber auch nebenher sogleich den | ||||||
| 11 | Verstand cultiviren. | ||||||
| 12 | Das Gedächtniß wird cultivirt 1) durch das Behalten der Namen | ||||||
| 13 | in Erzählungen; 2) durch das Lesen und Schreiben; jenes aber muß aus | ||||||
| 14 | dem Kopfe geübt werden und nicht durch das Buchstabiren; 3) durch | ||||||
| 15 | Sprachen, die den Kindern zuerst durchs Hören, bevor sie noch etwas lesen, | ||||||
| 16 | müssen beigebracht werden. Dann thut ein zweckmäßig eingerichteter sogenannter | ||||||
| 17 | Orbis pictus seine guten Dienste, und man kann mit dem Botanisiren, | ||||||
| 18 | mit der Mineralogie und der Naturbeschreibung überhaupt den | ||||||
| 19 | Anfang machen. Von diesen Gegenständen einen Abriß zu machen, das | ||||||
| 20 | giebt dann Veranlassung zum Zeichnen und Modelliren, wozu es der | ||||||
| 21 | Mathematik bedarf. Der erste wissenschaftliche Unterricht bezieht sich am | ||||||
| 22 | vorteilhaftesten auf die Geographie, die mathematische sowohl als die physikalische. | ||||||
| 23 | Reiseerzählungen, durch Kupfer und Karten erläutert, führen | ||||||
| 24 | dann zu der politischen Geographie. Von dem gegenwärtigen Zustande | ||||||
| 25 | der Erdoberfläche geht man dann auf den ehemaligen zurück, gelangt zur | ||||||
| 26 | alten Erdbeschreibung, alten Geschichte usw. | ||||||
| 27 | Bei dem Kinde aber muß man im Unterrichte allmählich das Wissen | ||||||
| 28 | und Können zu verbinden suchen. Unter allen Wissenschaften scheint die | ||||||
| 29 | Mathematik die einzige der Art zu sein, die diesen Endzweck am besten | ||||||
| 30 | befriedigt. Ferner muß das Wissen und Sprechen verbunden werden (Beredtheit, | ||||||
| 31 | Wohlredenheit und Beredsamkeit). Aber es muß auch das Kind | ||||||
| 32 | das Wissen sehr wohl vom bloßen Meinen und Glauben unterscheiden lernen. | ||||||
| 33 | In der Art bereitet man einen richtigen Verstand vor und einen richtigen, | ||||||
| 34 | nicht feinen oder zarten Geschmack. Dieser muß zuerst Geschmack der | ||||||
| 35 | Sinne, namentlich der Augen, zuletzt aber Geschmack der Ideen sein. | ||||||
| 36 | Regeln müssen in alle dem vorkommen, was den Verstand cultiviren | ||||||
| 37 | soll. Es ist sehr nützlich, die Regeln auch zu abstrahiren, damit der Verstand | ||||||
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