Kant: AA IX, Immanuel Kant über ... , Seite 472

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 zur Arbeit cultivirt werden, als in der Schule? Die Schule ist eine      
  02 zwangmäßige Cultur. Es ist äußerst schädlich, wenn man das Kind dazu      
  03 gewöhnt, Alles als Spiel zu betrachten. Es muß Zeit haben, sich zu erholen,      
  04 aber es muß auch eine Zeit für dasselbe sein, in der es arbeitet.      
  05 Wenn auch das Kind es nicht gleich einsieht, wozu dieser Zwang nütze:      
  06 so wird es doch in Zukunft den großen Nutzen davon gewahr werden. Es      
  07 würde überhaupt nur den Vorwitz der Kinder sehr verwöhnen, wenn man      
  08 ihre Frage: Wozu ist das? und wozu das? immer beantworten wollte.      
  09 Zwangmäßig muß die Erziehung sein, aber sklavisch darf sie deshalb      
  10 nicht sein.      
           
  11 Was die freie Cultur der Gemüthskräfte anbetrifft, so ist zu bemerken,      
  12 daß sie immer fortgeht. Sie muß eigentlich die obern Kräfte betreffen.      
  13 Die untern werden immer nebenbei cultivirt, aber nur in Rücksicht auf      
  14 die obern; der Witz z. E. in Rücksicht auf den Verstand. Die Hauptregel      
  15 hiebei ist, daß keine Gemüthskraft einzeln für sich, sondern jede nur in      
  16 Beziehung auf die andere müsse cultivirt werden; z. E. die Einbildungskraft      
  17 nur zum Vortheile des Verstandes.      
           
  18 Die untern Kräfte haben für sich allein keinen Werth, z. E. ein Mensch,      
  19 der viel Gedächtniß, aber keine Beurtheilungskraft hat. Ein solcher ist      
  20 dann ein lebendiges Lexikon. Auch solche Lastesel des Parnasses sind      
  21 nöthig, die, wenn sie gleich selbst nichts Gescheutes leisten können, doch      
  22 Materialien herbeischleppen, damit Andere etwas Gutes daraus zu Stande      
  23 bringen können. - Witz giebt lauter Albernheiten, wenn die Urtheilskraft      
  24 nicht hinzukommt. Verstand ist die Erkenntniß des Allgemeinen. Urtheilskraft      
  25 ist die Anwendung des Allgemeinen auf das Besondere. Vernunft      
  26 ist das Vermögen, die Verknüpfung des Allgemeinen mit dem Besondern      
  27 einzusehen. Diese freie Cultur geht ihren Gang fort von Kindheit      
  28 auf bis zu der Zeit, da der Jüngling aller Erziehung entlassen wird.      
  29 Wenn ein Jüngling z. E. eine allgemeine Regel anführt, so kann man      
  30 ihn Fälle aus der Geschichte, Fabeln, in die diese Regel verkleidet ist,      
  31 Stellen aus Dichtern, wo sie schon ausgedrückt ist, anführen lassen und so      
  32 ihm Anlaß geben, seinen Witz, sein Gedächtniß usw. zu üben.      
           
  33 Der Ausspruch tantum scimus, quantum memoria tenemus hat      
  34 freilich seine Richtigkeit, und daher ist die Cultur des Gedächtnisses sehr      
  35 nothwendig. Alle Dinge sind so beschaffen, daß der Verstand erst den      
  36 sinnlichen Eindrücken folgt, und das Gedächtniß diese aufbehalten muß.      
  37 So z. E. verhält es sich bei den Sprachen. Man kann sie entweder durch      
           
     

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