Kant: AA IX, Immanuel Kant über ... , Seite 465 |
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| 01 | möchten. Nichts ist schädlicher, als eine neckende, sklavische Disciplin, | ||||||
| 02 | um den Eigenwillen zu brechen. | ||||||
| 03 | Gemeinhin ruft man den Kindern ein: Pfui, schäme dich, wie schickt | ||||||
| 04 | sich das! usw. zu. Dergleichen sollte aber bei der ersten Erziehung gar | ||||||
| 05 | nicht vorkommen. Das Kind hat noch keine Begriffe von Scham und vom | ||||||
| 06 | Schicklichen, es hat sich nicht zu schämen, soll sich nicht schämen und wird | ||||||
| 07 | dadurch nur schüchtern. Es wird verlegen bei dem Anblicke Anderer und | ||||||
| 08 | verbirgt sich gerne vor andern Leuten. Dadurch entsteht Zurückhaltung | ||||||
| 09 | und ein nachtheiliges Verheimlichen. Es wagt nichts mehr zu bitten und | ||||||
| 10 | sollte doch um Alles bitten können; es verheimlicht seine Gesinnung und | ||||||
| 11 | scheint immer anders, als es ist, statt daß es freimüthig Alles müßte sagen | ||||||
| 12 | dürfen. Statt immer um die Eltern zu sein, meidet es sie und wirft sich | ||||||
| 13 | dem willfährigern Hausgesinde in die Arme. | ||||||
| 14 | Um nichts besser aber als jene neckende Erziehung ist das Vertändeln | ||||||
| 15 | und ununterbrochene Liebkosen. Dieses bestärkt das Kind im eigenen | ||||||
| 16 | Willen, macht es falsch, und indem es ihm eine Schwachheit der Eltern | ||||||
| 17 | verräth, raubt es ihnen die nöthige Achtung in den Augen des Kindes. | ||||||
| 18 | Wenn man es aber so erzieht, daß es nichts durch Schreien ausrichten | ||||||
| 19 | kann, so wird es frei, ohne dummdreist, und bescheiden, ohne schüchtern zu | ||||||
| 20 | sein. Dreist sollte man eigentlich dräust schreiben, denn es kommt von | ||||||
| 21 | dräuen, drohen her. Einen dreisten Menschen kann man nicht wohl | ||||||
| 22 | leiden. Manche Menschen haben solche dreiste Gesichter, daß man sich | ||||||
| 23 | immer vor einer Grobheit von ihnen fürchten muß, so wie man andern | ||||||
| 24 | Gesichtern es gleich ansehen kann, daß sie nicht im Stande sind, jemanden | ||||||
| 25 | eine Grobheit zu sagen. Man kann immer freimüthig aussehen, wenn es | ||||||
| 26 | nur mit einer gewissen Güte verbunden ist. Die Leute sagen oft von vornehmen | ||||||
| 27 | Männern, sie sähen recht königlich aus. Dies ist aber weiter | ||||||
| 28 | nichts, als ein gewisser dreister Blick, den sie sich von Jugend auf angewöhnt | ||||||
| 29 | haben, weil man ihnen da nicht widerstanden hat. | ||||||
| 30 | Alles dieses kann man noch zur negativen Bildung rechnen. Denn | ||||||
| 31 | viele Schwächen des Menschen kommen oft nicht davon her, weil man | ||||||
| 32 | ihn nichts gelehrt, sondern weil ihm noch falsche Eindrücke beigebracht | ||||||
| 33 | sind. So z. E. bringen die Ammen den Kindern eine Furcht vor Spinnen, | ||||||
| 34 | Kröten usw. bei. Die Kinder möchten gewiß nach den Spinnen eben | ||||||
| 35 | so, wie nach andern Dingen greifen. Weil aber die Ammen, sobald sie | ||||||
| 36 | eine Spinne sehen, ihren Abscheu durch Mienen bezeigen: so wirkt dies | ||||||
| 37 | durch eine gewisse Sympathie auf das Kind. Viele behalten diese Furcht | ||||||
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