Kant: AA IX, Immanuel Kant über ... , Seite 461

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Rousseau sagt: Wenn man einem Kinde, das nur ohngefähr sechs Monate      
  02 alt ist, auf die Hand schlägt: so schreit es in der Art, als wenn ihm ein      
  03 Feuerbrand auf die Hand gefallen wäre. Es verbindet hiermit schon wirklich      
  04 den Begriff einer Beleidigung. Die Eltern reden gemeiniglich sehr viel      
  05 von dem Brechen des Willens bei den Kindern. Man darf ihren Willen      
  06 nicht brechen, wenn man ihn nicht erst verdorben hat. Dies ist aber das      
  07 erste Verderben, wenn man dem despotischen Willen der Kinder willfahrt,      
  08 indem sie durch ihr Schreien Alles erzwingen können. Äußerst schwer ist      
  09 es noch nachher, dies wieder gut zu machen, und es wird kaum je gelingen.*)      
           
  10 Man kann wohl machen, daß das Kind stille sei, es frißt aber die Galle      
  11 in sich und hegt desto mehr innerliche Wuth. Man gewöhnt es dadurch zur      
  12 Verstellung und innern Gemüthsbewegungen. So ist es z. E. sehr sonderbar,      
  13 wenn Eltern verlangen, daß die Kinder, nachdem sie sie mit der Ruthe      
  14 geschlagen haben, ihnen die Hände küssen sollen. Man gewöhnt sie dadurch      
  15 zur Verstellung und Falschheit. Denn die Ruthe ist doch eben nicht so      
  16 ein schönes Geschenk, für das man sich noch bedanken darf, und man kann      
  17 leicht denken, mit welchem Herzen das Kind dann die Hand küßt.      
  18 Man bedient sich gewöhnlich, um die Kinder gehen zu lehren, des      
  19 Leitbandes und Gängelwagens. Es ist doch auffallend, daß man      
  20 die Kinder das Gehen lehren will, als wenn irgend ein Mensch aus Mangel      
  21 des Unterrichtes nicht hätte gehen können. Die Leitbänder sind besonders      
  22 sehr schädlich. Ein Schriftsteller klagte einst über Engbrüstigkeit, die er      
  23 blos dem Leitbande zuschrieb. Denn da ein Kind nach allem greift und      
  24 alles von der Erde aufhebt, so legt es sich mit der Brust in das Leitband.      
  25 Da die Brust aber noch weich ist, so wird sie platt gedrückt und behält      
  26 nachher auch diese Form. Die Kinder lernen bei dergleichen Hülfsmitteln      
  27 auch nicht so sicher gehen, als wenn sie dies von selbst lernen. Am besten      
  28 ist es, wenn man sie auf der Erde herumkriechen läßt, bis sie nach und      
  29 nach von selbst anfangen zu gehen. Zur Vorsicht kann man die Stube      
  30 mit wollenen Decken ausschlagen, damit sie sich nicht Splitter einreißen,      
  31 auch nicht so hart fallen.      
           
  32 Man sagt gemeinhin, daß Kinder sehr schwer fallen. Außerdem aber,      
  33 daß Kinder nicht einmal schwer fallen können, so schadet es ihnen auch      
  34 nicht, wenn sie einmal fallen. Sie lernen nur, sich desto besser das Gleichgewicht      
  35 geben und sich so zu wenden, daß ihnen der Fall nicht schadet.      
           
    *) Vergl. Horstig, Soll man die Kinder schreien lassen? Gotha 1798.      
           
     

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