Kant: AA IX, Immanuel Kant über ... , Seite 460 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
01 | die gemeinen Leute spielen mit ihren Kindern, wie die Affen. Sie singen | ||||||
02 | ihnen vor, herzen, küssen sie, tanzen mit ihnen. Sie denken also dem Kinde | ||||||
03 | etwas zu gute zu thun, wenn sie, sobald es schreit, hinzulaufen und mit | ||||||
04 | ihm spielen usw. Desto öfter schreien sie aber. Wenn man sich dagegen | ||||||
05 | an ihr Schreien nicht kehrt, so hören sie zuletzt damit auf. Denn kein Geschöpf | ||||||
06 | macht sich gerne eine vergebliche Arbeit. Man gewöhne sie aber | ||||||
07 | nur daran, alle ihre Launen erfüllt zu sehn: so kommt das Brechen des | ||||||
08 | Willens nachher zu spät. Läßt man sie aber schreien, so werden sie selbst | ||||||
09 | desselben überdrüssig. Wenn man ihnen aber in der ersten Jugend alle | ||||||
10 | Launen erfüllt, so verdirbt man dadurch ihr Herz und ihre Sitten. | ||||||
11 | Das Kind hat freilich noch keinen Begriff von Sitten, es wird aber | ||||||
12 | dadurch seine Naturanlage in der Art verdorben, daß man nachher sehr | ||||||
13 | harte Strafen anwenden muß, um das Verdorbene wieder gut zu machen. | ||||||
14 | Die Kinder äußern nachher, wenn man es ihnen abgewöhnen will, da | ||||||
15 | man immer auf ihr Verlangen hinzueile, bei ihrem Schreien eine so große | ||||||
16 | Wuth, als nur immer große Leute deren fähig sind, nur daß ihnen die | ||||||
17 | Kräfte fehlen, sie in Thätigkeit zu setzen. So lange haben sie nur rufen | ||||||
18 | dürfen, und Alles kam herbei, sie herrschten also ganz despotisch. Wenn | ||||||
19 | diese Herrschaft nun aufhört, so verdrießt sie das ganz natürlich. Denn | ||||||
20 | wenn auch große Menschen eine Zeit lang im Besitze einer Macht gewesen | ||||||
21 | sind: so fällt es ihnen sehr schwer, sich geschwinde derselben zu entwöhnen. | ||||||
22 | Kinder können in der ersten Zeit, ungefähr in den ersten 3 Monaten, | ||||||
23 | nicht recht sehen. Sie haben zwar die Empfindung vom Lichte, können | ||||||
24 | aber die Gegenstände nicht von einander unterscheiden. Man kann sich | ||||||
25 | davon überzeugen; wenn man ihnen etwas Glänzendes vorhält, so verfolgen | ||||||
26 | sie es nicht mit den Augen.*) Mit dem Gesichte findet sich auch | ||||||
27 | das Vermögen zu lachen und zu weinen. Wenn das Kind nun in diesem | ||||||
28 | Zustande ist, so schreit es mit Reflexion, sie sei auch noch so dunkel, als | ||||||
29 | sie wolle. Es meint dann immer, es sei ihm etwas zu Leide gethan. | ||||||
*) Das Gehör scheint stärker bei Kindern zu wirken und thätiger, daß ich so sage, zu sein, als das Gesicht. Selbst der beste Gebrauch der Sinne setzt eine gewisse Cultur voraus, und daher kommt es denn wohl, daß so viele, selbst erwachsene Leute zwar Augen haben, aber nicht sehen, Ohren, aber nicht hören usw. Die Ursache liegt wohl nur im Mangel an Achtsamkeit, und dieser ist immer größer, je geringer die Cultur ist. Mit der ersten Weckung jener wird der Grund zu dieser gelegt, aber die letztere wird dann die Bedingung der erstern. Es wäre dies ein Thema, der weitern Ausführung werth; nur hier läßt sich diese nicht geben. A. d. H. | |||||||
[ Seite 459 ] [ Seite 461 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |