Kant: AA IX, Immanuel Kant über ... , Seite 447 |
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01 | Zustande anfangen? Es ist schwer, sich eine Entwickelung aus der Rohheit | ||||||
02 | zu denken (daher ist auch der Begriff des ersten Menschen so schwer), und | ||||||
03 | wir sehen, daß bei einer Entwickelung aus einem solchen Zustande man | ||||||
04 | doch immer wieder in Rohigkeit zurück gefallen ist und dann erst sich | ||||||
05 | wieder aufs neue aus demselben emporgehoben hat. Auch bei sehr gesitteten | ||||||
06 | Völkern finden wir in den frühesten Nachrichten, die sie uns aufgezeichnet | ||||||
07 | hinterlassen haben, - und wie viele Cultur gehört nicht schon | ||||||
08 | zum Schreiben? so daß man in Rücksicht auf gesittete Menschen den | ||||||
09 | Anfang der Schreibekunst den Anfang der Welt nennen könnte - ein | ||||||
10 | starkes Angrenzen an Rohigkeit. | ||||||
11 | Weil die Entwickelung der Naturanlagen bei dem Menschen nicht | ||||||
12 | von selbst geschieht, so ist alle Erziehung - eine Kunst. - Die Natur | ||||||
13 | hat dazu keinen Instinct in ihn gelegt. - Der Ursprung sowohl als der | ||||||
14 | Fortgang dieser Kunst ist entweder mechanisch, ohne Plan nach gegebenen | ||||||
15 | Umständen geordnet, oder judiciös. Mechanisch entspringt die Erziehungskunst | ||||||
16 | blos bei vorkommenden Gelegenheiten, wo wir erfahren, | ||||||
17 | ob etwas dem Menschen schädlich oder nützlich sei. Alle Erziehungskunst, | ||||||
18 | die blos mechanisch entspringt, muß sehr viele Fehler und Mängel an sich | ||||||
19 | tragen, weil sie keinen Plan zum Grunde hat. Die Erziehungskunst oder | ||||||
20 | Pädagogik muß also judiciös werden, wenn sie die menschliche Natur so | ||||||
21 | entwickeln soll, daß sie ihre Bestimmung erreiche. Schon erzogene Eltern | ||||||
22 | sind Beispiele, nach denen sich die Kinder bilden, zur Nachachtung. Aber | ||||||
23 | wenn diese besser werden sollen: so muß die Pädagogik ein Studium werden, | ||||||
24 | sonst ist nichts von ihr zu hoffen, und ein in der Erziehung Verdorbener | ||||||
25 | erzieht sonst den andern. Der Mechanismus in der Erziehungskunst muß | ||||||
26 | in Wissenschaft verwandelt werden, sonst wird sie nie ein zusammenhängendes | ||||||
27 | Bestreben werden, und eine Generation möchte niederreißen, | ||||||
28 | was die andere schon aufgebaut hätte. | ||||||
29 | Ein Princip der Erziehungskunst, das besonders solche Männer, die | ||||||
30 | Pläne zur Erziehung machen, vor Augen haben sollten, ist: Kinder sollen | ||||||
31 | nicht nur dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftig möglichen bessern Zustande | ||||||
32 | des menschlichen Geschlechts, das ist: der Idee der Menschheit und | ||||||
33 | deren ganzer Bestimmung angemessen erzogen werden. Dieses Princip ist | ||||||
34 | von großer Wichtigkeit. Eltern erziehen gemeiniglich ihre Kinder nur so, | ||||||
35 | daß sie in die gegenwärtige Welt, sei sie auch verderbt, passen. Sie sollten | ||||||
36 | sie aber besser erziehen, damit ein zukünftiger besserer Zustand dadurch | ||||||
37 | hervorgebracht werde. Es finden sich hier aber zwei Hindernisse: | ||||||
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