Kant: AA IX, Immanuel Kant über ... , Seite 445

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 eine bloße Grille? Und die Idee einer Erziehung, die alle Naturanlagen      
  02 im Menschen entwickelt, ist allerdings wahrhaft.      
           
  03 Bei der jetzigen Erziehung erreicht der Mensch nicht ganz den Zweck      
  04 seines Daseins. Denn wie verschieden leben die Menschen! Eine Gleichförmigkeit      
  05 unter ihnen kann nur Statt finden, wenn sie nach einerlei      
  06 Grundsätzen handeln, und diese Grundsätze müßten ihnen zur andern Natur      
  07 werden. Wir können an dem Plane einer zweckmäßigern Erziehung      
  08 arbeiten und eine Anweisung zu ihr der Nachkommenschaft überliefern,      
  09 die sie nach und nach realisiren kann. Man sieht z. B. an den Aurikeln,      
  10 daß, wenn man sie aus der Wurzel zieht, man sie alle nur von einer und      
  11 derselben Farbe bekommt; wenn man dagegen aber ihren Samen aussät:      
  12 so bekommt man sie von ganz andern und den verschiedensten Farben. Die      
  13 Natur hat also doch die Keime in sie gelegt, und es kommt nur auf das      
  14 gehörige Säen und Verpflanzen an, um diese in ihnen zu entwickeln. So      
  15 auch bei dem Menschen!      
           
  16 Es liegen viele Keime in der Menschheit, und nun ist es unsere Sache,      
  17 die Naturanlagen proportionirlich zu entwickeln und die Menschheit aus      
  18 ihren Keimen zu entfalten und zu machen, daß der Mensch seine Bestimmung      
  19 erreiche. Die Thiere erfüllen diese von selbst, und ohne daß sie      
  20 sie kennen. Der Mensch muß erst suchen, sie zu erreichen, dieses kann aber      
  21 nicht geschehen, wenn er nicht einmal einen Begriff von seiner Bestimmung      
  22 hat. Bei dem Individuo ist die Erreichung der Bestimmung auch gänzlich      
  23 unmöglich. Wenn wir ein wirklich ausgebildetes erstes Menschenpaar      
  24 annehmen, so wollen wir doch sehen, wie es seine Zöglinge erzieht. Die      
  25 ersten Eltern geben den Kindern schon ein Beispiel, die Kinder ahmen es      
  26 nach, und so entwickeln sich einige Naturanlagen. Alle können nicht auf      
  27 diese Art ausgebildet werden, denn es sind meistens alles nur Gelegenheitsumstände,      
  28 bei denen die Kinder Beispiele sehen. Vormals hatten die      
  29 Menschen keinen Begriff einmal von der Vollkommenheit, die die menschliche      
  30 Natur erreichen kann. Wir selbst sind noch nicht einmal mit diesem      
  31 Begriffe auf dem Reinen. Soviel ist aber gewiß, daß nicht einzelne      
  32 Menschen bei aller Bildung ihrer Zöglinge es dahin bringen können, da      
  33 dieselben ihre Bestimmung erreichen. Nicht einzelne Menschen, sondern      
  34 die Menschengattung soll dahin gelangen.*)      
           
    *) Der einzelne Mensch wird nie ganz frei werden von Schwächen, wird selbst seine Fehler nicht ganz ablegen, aber dabei kann es mit ihm und mit der Menschheit [Seitenumbruch] insbesondere doch immer besser werden. Selbst die gewöhnliche Klage über eine vermeinte Verschlimmerung der Menschen ist ein Beweis des Fortschreitens der Menschheit im Guten, indem sie nur die Folge rechtlich= und sittlich=strengerer Grundsätze sein kann. d. H.      
           
     

[ Seite 444 ] [ Seite 446 ] [ Inhaltsverzeichnis ]