Kant: AA IX, Immanuel Kants physische ... , Seite 219

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Alles dieses bestätigt die Erfahrung zum Beweise, daß der Umlauf      
  02 des Mondes wirklich die Ursache von dem Steigen des Wassers, welches      
  03 die Fluth heißt, und dem Fallen desselben, welches die Ebbe genannt      
  04 wird, ist. Die Fluth zur Zeit des Neu= und Vollmondes heißt die      
  05 Springfluth, zur Zeit der beiden Viertel aber die todte Fluth oder      
  06 Nipp=Fluth. Doch wird das Wasser auch bei der stärksten Fluth eigentlich      
  07 nur um sechs Fuß in die Höhe gehoben.      
           
  08 Es ist aber an manchem Orte Ebbe, wenn nicht weit davon Fluth      
  09 ist. So ist bei Hamburg Ebbe, wenn bei Helgoland, einer nur fünfzehn      
  10 Meilen von jener Stadt entfernten Insel, Fluth ist. Dieses rührt daher,      
  11 weil die Fluth nach der Beschaffenheit des umherliegenden Landes gar      
  12 oft verzögert wird, so daß sie nicht zu rechter Zeit eintreten kann, indessen      
  13 kommen dennoch an einem jeden besondern Orte Ebbe und Fluth zu einer      
  14 bestimmten Zeit. London hält es sich für ein großes Prärogativ, daß die      
  15 Schiffe aus Schottland sowohl als aus Frankreich mit der Fluth daselbst      
  16 einlaufen und mit der Ebbe wieder auslaufen können. Es läßt sich aber      
  17 solches füglich erklären, indem die Fluth aus zwei Meeren zugleich wie      
  18 in einen Canal einfließt.      
           
  19 Die Ebbe in den Flüssen dauert länger als die Fluth, weil sich das      
  20 Wasser in ihnen sehr hemmt. Das Todte, das Kaspische Meer und die      
  21 Ostsee haben keine Fluth, weil sie vom Ocean abgeschnitten sind und an      
  22 sich eine zu kleine Oberfläche haben. Bei Venedig zeigt sie sich zwar, aber      
  23 nur sehr unbedeutend.      
           
  24 Die Anziehung des Mondes ist eben so alt als er selbst und eben      
  25 eine Kraft wie die Schwere, daher sie bis zum Centrum dringt. Dem      
  26 zu folge erstreckt sich auch die Bewegung des Wassers bei der Ebbe und      
  27 Fluth bis auf den Grund des Meeres und bringt also Wirkungen hervor,      
  28 die die Wellen nicht zu effectuiren im Stande sind. Sie ist die erste Ursache      
  29 der größten Veränderungen auf der Erde, und einige Ströme und      
  30 Strudel sind, wie schon bemerkt, Wirkungen der Ebbe und Fluth. So ist      
  31 der Euripus, den man von Euböa aus wahrnehmen kann, eine Wirkung      
  32 derselben, indem er sich beständig nach dem Stande des Mondes richtet.      
  33 Er wird zu gewissen Zeiten unruhig, und seine Wellen bewegen sich stark,      
  34 brausen auf und schlagen einander zurück, ohne daß der geringste Wind      
  35 dazu kommt. Die große Unähnlichkeit dieser Erscheinung mit der Ebbe      
  36 und Fluth hinderte die Naturforscher geraume Zeit, die wahre Ursache      
  37 derselben zu entdecken, ja, nach einer bekannten Fabel, sollte sich Aristoteles      
           
     

[ Seite 218 ] [ Seite 220 ] [ Inhaltsverzeichnis ]