Kant: AA IX, Immanuel Kant's Logik Ein ... , Seite 083 |
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01 | Zweifel ist ein Gegengrund oder ein bloßes Hinderniß des Fürwahrhaltens, | ||||||
02 | das entweder subjectiv oder objectiv betrachtet werden | ||||||
03 | kann. Subjectiv nämlich wird Zweifel bisweilen genommen als ein | ||||||
04 | Zustand eines unentschlossenen Gemüths, und objectiv als die Erkenntniß | ||||||
05 | der Unzulänglichkeit der Gründe zum Fürwahrhalten. In der letztern | ||||||
06 | Rücksicht heißt er ein Einwurf, das ist: ein objectiver Grund, ein | ||||||
07 | für wahr gehaltenes Erkenntniß für falsch zu halten. | ||||||
08 | Ein bloß subjectiv gültiger Gegengrund des Fürwahrhaltens ist ein | ||||||
09 | Scrupel. Beim Scrupel weiß man nicht: ob das Hinderniß des Fürwahrhaltens | ||||||
10 | objectiv oder nur subjectiv, z. B. nur in der Neigung, der | ||||||
11 | Gewohnheit u. dgl. m. gegründet sei. Man zweifelt, ohne sich über den | ||||||
12 | Grund des Zweifelns deutlich und bestimmt erklären und ohne einsehen | ||||||
13 | zu können: ob dieser Grund im Object selbst oder nur im Subjecte liege. | ||||||
14 | Sollen nun solche Scrupel hinweggenommen werden können: so müssen | ||||||
15 | sie zur Deutlichkeit und Bestimmtheit eines Einwurfs erhoben werden. | ||||||
16 | Denn durch Einwürfe wird die Gewißheit zur Deutlichkeit und Vollständigkeit | ||||||
17 | gebracht, und keiner kann von einer Sache gewiß sein, wenn nicht | ||||||
18 | Gegengründe rege gemacht worden, wodurch bestimmt werden kann: wie | ||||||
19 | weit man noch von der Gewißheit entfernt, oder wie nahe man noch derselben | ||||||
20 | sei. Auch ist es nicht genug: daß ein jeder Zweifel bloß beantwortet | ||||||
21 | werde, man muß ihn auch auflösen, das heißt: begreiflich machen, | ||||||
22 | wie der Scrupel entstanden ist. Geschieht dieses nicht: so wird der Zweifel | ||||||
23 | nur abgewiesen, aber nicht aufgehoben, der Same des Zweifelns | ||||||
24 | bleibt dann immer noch übrig. In vielen Fällen können wir freilich nicht | ||||||
25 | wissen: ob das Hinderniß des Fürwahrhaltens in uns nur subjective oder | ||||||
26 | objective Gründe habe und also den Scrupel nicht heben durch Aufdeckung | ||||||
27 | des Scheines, da wir unsere Erkenntnisse nicht immer mit dem Object, | ||||||
28 | sondern oft nur unter einander selbst vergleichen können. Es ist daher | ||||||
29 | Bescheidenheit, seine Einwürfe nur als Zweifel vorzutragen. | ||||||
30 | Es giebt einen Grundsatz des Zweifelns, der in der Maxime besteht, | ||||||
31 | Erkenntnisse in der Absicht zu behandeln, daß man sie ungewiß macht und | ||||||
32 | die Unmöglichkeit zeigt, zur Gewißheit zu gelangen. Diese Methode des | ||||||
33 | Philosophirens ist die skeptische Denkart oder der Skepticismus. | ||||||
34 | Sie ist der dogmatischen Denkart oder dem Dogmatismus entgegengesetzt, | ||||||
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