Kant: AA IX, Immanuel Kant's Logik Ein ... , Seite 081 |
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01 | Fragen, besonders die wegen Begünstigung der Vorurtheile, noch | ||||||
02 | können aufgegeben werden. Jemandes Vorurtheile begünstigen, heißt | ||||||
03 | eben so viel als Jemanden in guter Absicht betrügen. Vorurtheile unangetastet | ||||||
04 | lassen, ginge noch an; denn wer kann sich damit beschäftigen, | ||||||
05 | eines Jeden Vorurtheile aufzudecken und wegzuschaffen. Ob es aber nicht | ||||||
06 | rathsam sein sollte, an ihrer Ausrottung mit allen Kräften zu arbeiten, | ||||||
07 | das ist doch eine andre Frage. Alte und eingewurzelte Vorurtheile | ||||||
08 | sind freilich schwer zu bekämpfen, weil sie sich selbst verantworten und gleichsam | ||||||
09 | ihre eigenen Richter sind. Auch sucht man das Stehenlassen der Vorurtheile | ||||||
10 | damit zu entschuldigen, daß aus ihrer Ausrottung Nachtheile entstehen | ||||||
11 | würden. Aber man lasse diese Nachtheile nur immer zu, in der | ||||||
12 | Folge werden sie desto mehr Gutes bringen. | ||||||
13 | X |
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14 | Wahrscheinlichkeit. - Erklärung des Wahrscheinlichen. - |
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15 | Unterschied der Wahrscheinlichkeit von der Scheinbarkeit. - |
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16 | Mathematische und philosophische Wahrscheinlichkeit. - |
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17 | Zweifel - subjectiver und objectiver. - Skeptische, dogmatische |
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18 | und kritische Denkart oder Methode des |
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19 | Philosophirens. - Hypothesen. |
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20 | Zur Lehre von der Gewißheit unsers Erkenntnisses gehört auch die | ||||||
21 | Lehre von der Erkenntniß des Wahrscheinlichen, das als eine Annäherung | ||||||
22 | zur Gewißheit anzusehen ist. | ||||||
23 | Unter Wahrscheinlichkeit ist ein Fürwahrhalten aus unzureichenden | ||||||
24 | Gründen zu verstehen, die aber zu den zureichenden ein größeres Verhältniß | ||||||
25 | haben, als die Gründe des Gegentheils. Durch diese Erklärung | ||||||
26 | unterscheiden wir die Wahrscheinlichkeit ( probabilitas ) von der bloßen | ||||||
27 | Scheinbarkeit ( verisimilitudo ), einem Fürwahrhalten aus unzureichenden | ||||||
28 | Gründen, in so fern dieselben größer sind als die Gründe des | ||||||
29 | Gegentheils. | ||||||
30 | Der Grund des Fürwahrhaltens kann nämlich entweder objectiv | ||||||
31 | oder subjectiv größer sein als der des Gegentheils. Welches von beiden | ||||||
32 | er sei, das kann man nur dadurch ausfindig machen, daß man die | ||||||
33 | Gründe des Fürwahrhaltens mit den zureichenden vergleicht; denn alsdenn | ||||||
34 | sind die Gründe des Fürwahrhaltens größer, als die Gründe des | ||||||
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