Kant: AA IX, Immanuel Kant's Logik Ein ... , Seite 080 |
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01 | Wenn etwas die Erwartung nach einer allgemeinen Regel übertrifft: | ||||||
02 | so verwundert man sich anfangs darüber und diese Verwunderung | ||||||
03 | geht sodann oft in Bewunderung über. Dieses ist der Fall | ||||||
04 | mit den Alten, wenn man bei ihnen etwas findet, was man, in Rücksicht | ||||||
05 | auf die Zeitumstände, unter welchen sie lebten, nicht suchte. | ||||||
06 | Eine andre Ursache liegt in dem Umstande, daß die Kenntniß von | ||||||
07 | den Alten und dem Alterthum eine Gelehrsamkeit und Belesenheit | ||||||
08 | beweist, die sich immer Achtung erwirbt, so gemein und unbedeutend | ||||||
09 | die Sachen an sich selbst sein mögen, die man aus dem Studium der | ||||||
10 | Alten geschöpft hat. Eine dritte Ursache ist die Dankbarkeit, die wir | ||||||
11 | den Alten dafür schuldig sind, daß sie uns die Bahn zu vielen Kenntnissen | ||||||
12 | gebrochen. Es scheint billig zu sein, ihnen dafür eine besondre | ||||||
13 | Hochschätzung zu beweisen, deren Maaß wir aber oft überschreiten. | ||||||
14 | Eine vierte Ursache ist endlich zu suchen in einem gewissen Neide | ||||||
15 | gegen die Zeitgenossen. Wer es mit den Neuern nicht aufnehmen | ||||||
16 | kann, preist auf Unkosten derselben die Alten hoch, damit sich die | ||||||
17 | Neuern nicht über ihn erheben können. | ||||||
18 | Das entgegengesetzte von diesem ist das Vorurtheil der Neuigkeit. | ||||||
19 | Zuweilen fiel das Ansehen des Alterthums und das Vorurtheil | ||||||
20 | zu Gunsten desselben, insbesondre im Anfange dieses Jahrhunderts, | ||||||
21 | als der berühmte Fontenelle sich auf die Seite der Neuern | ||||||
22 | schlug. Bei Erkenntnissen, die einer Erweiterung fähig sind, ist es | ||||||
23 | sehr natürlich, daß wir in die Neuern mehr Zutrauen setzen als in | ||||||
24 | die Alten. Aber dieses Urtheil hat auch nur Grund als ein bloßes | ||||||
25 | vorläufiges Urtheil. Machen wir es zu einem bestimmenden: so | ||||||
26 | wird es Vorurtheil. | ||||||
27 | 2) Vorurtheile aus Eigenliebe oder logischem Egoismus, | ||||||
28 | nach welchem man die Übereinstimmung des eigenen Urtheils mit den | ||||||
29 | Urtheilen Anderer für ein entbehrliches Kriterium der Wahrheit hält. | ||||||
30 | Sie sind den Vorurtheilen des Ansehens entgegengesetzt, da sie sich in | ||||||
31 | einer gewissen Vorliebe für das äußern, was ein Product des eigenen Verstandes | ||||||
32 | ist, z. B. des eigenen Lehrgebäudes. | ||||||
33 | Ob es gut und rathsam sei, Vorurtheile stehen zu lassen oder sie wohl | ||||||
34 | gar zu begünstigen? Es ist zum Erstaunen, daß in unserm Zeitalter dergleichen | ||||||
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