Kant: AA IX, Immanuel Kant's Logik Ein ... , Seite 077

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Nachahmung anzugewöhnen und dadurch die Vernunft zu einem fruchtbaren      
  02 Boden von Vorurtheilen zu machen. Zu dergleichen Hülfsmitteln      
  03 der Nachahmung gehören      
           
  04 1) Formeln. Dieses sind Regeln, deren Ausdruck zum Muster der      
  05 Nachahmung dient. Sie sind übrigens ungemein nützlich zur Erleichterung      
  06 bei verwickelten Sätzen und der erleuchtetste Kopf sucht daher dergleichen      
  07 zu erfinden.      
           
  08 2) Sprüche, deren Ausdruck eine große Abgemessenheit eines prägnanten      
  09 Sinnes hat, so daß es scheint, man könne den Sinn nicht mit      
  10 weniger Worten umfassen. Dergleichen Aussprüche ( dicta ), die immer      
  11 von Andern entlehnt werden müssen, denen man eine gewisse Unfehlbarkeit      
  12 zutraut, dienen, um dieser Autorität willen, zur Regel und zum Gesetz.      
  13 Die Aussprüche der Bibel heißen Sprüche κατ' εξοχην.      
           
  14 3) Sentenzen, d. i. Sätze, die sich empfehlen und ihr Ansehen oft      
  15 Jahrhunderte hindurch erhalten, als Producte einer reifen Urtheilskraft      
  16 durch den Nachdruck der Gedanken, die darin liegen.      
           
  17 4) Canones . Dieses sind allgemeine Lehrsprüche, die den Wissenschaften      
  18 zur Grundlage dienen und etwas Erhabenes und Durchdachtes      
  19 andeuten. Man kann sie noch auf eine sententiöse Art ausdrücken, damit      
  20 sie desto mehr gefallen.      
           
  21 5) Sprüchwörter ( proverbia ). Dieses sind populäre Regeln des      
  22 gemeinen Verstandes oder Ausdrücke zu Bezeichnung der populären Urtheile      
  23 desselben. Da dergleichen bloß provinziale Sätze nur dem gemeinen      
  24 Pöbel zu Sentenzen und Canonen dienen: so sind sie bei Leuten von feinerer      
  25 Erziehung nicht anzutreffen.      
           
  26 Aus den vorhin angegebenen drei allgemeinen Quellen der Vorurtheile,      
  27 und insbesondere auch der Nachahmung, entspringen nun so manche      
  28 besondre Vorurtheile, unter denen wir folgende, als die gewöhnlichsten,      
  29 hier berühren wollen.      
           
  30 1) Vorurtheile des Ansehens. Zu diesen ist zu rechnen:      
  31 a) das Vorurtheil des Ansehens der Person. Wenn wir      
  32 in Dingen, die auf Erfahrung und Zeugnissen beruhen, unsre Erkenntniß      
  33 auf das Ansehen andrer Personen bauen: so machen wir      
  34 uns dadurch keiner Vorurtheile schuldig, denn in Sachen dieser Art      
           
           
     

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