Kant: AA VIII, Von einem neuerdings erhobenen ... , Seite 393

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 daß er durch dieses Vermögen sich selbst zu bewegen ihren Unterschied      
  02 von der Materie, als die an sich leblos und nur durch etwas Äußeres      
  03 bewegbar ist, mithin die Freiheit habe anzeigen wollen.      
           
  04 Es war also die Mathematik, über welche Pythagoras sowohl      
  05 als Plato philosophirten, indem sie alles Erkenntniß a priori (es      
  06 möchte nun Anschauung oder Begriff enthalten) zum Intellectuellen zählten      
  07 und durch diese Philosophie auf ein Geheimniß zu stoßen glaubten, wo      
  08 kein Geheimniß ist: nicht weil die Vernunft alle an sie ergehende Fragen      
  09 beantworten kann, sondern weil ihr Orakel verstummt, wenn die Frage      
  10 bis so hoch gesteigert worden, daß sie nun keinen Sinn mehr hat. Wenn      
  11 z. B. die Geometrie einige schön genannte Eigenschaften des Zirkels      
  12 (wie man im Montucla nachsehen kann) aufstellt, und nun gefragt wird:      
  13 woher kommen ihm diese Eigenschaften, die eine Art von ausgedehnter      
  14 Brauchbarkeit und Zweckmäßigkeit zu enthalten scheinen? so kann darauf      
  15 keine andere Antwort gegeben werden als: quaerit delirus, quod non respondet      
  16 Homerus . Der, welcher eine mathematische Aufgabe philosophisch      
  17 auflösen will, widerspricht sich hiemit selbst; z. B.: Was macht, daß das      
  18 rationale Verhältniß der drei Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks nur      
  19 das der Zahlen 3, 4, 5 sein kann? Aber der über eine mathematische Aufgabe      
  20 Philosophirende glaubt hier auf ein Geheimniß zu stoßen und      
  21 eben darum etwas Überschwenglich=Großes zu sehen, wo er nichts sieht,      
  22 und setzt gerade darin, daß er über eine Idee in sich brütet, die er weder      
  23 sich verständlich machen noch Andern mittheilen kann, die ächte Philosophie      
  24 ( philosophia arcani ), wo denn das Dichtertalent Nahrung für sich findet      
  25 im Gefühl und Genuß zu schwärmen: welches freilich weit einladender      
  26 und glänzender ist als das Gesetz der Vernunft, durch Arbeit sich einen      
  27 Besitz zu erwerben; - wobei aber auch Armuth und Hoffart die belachenswerthe      
  28 Erscheinung geben die Philosophie in einem vornehmen Ton      
  29 sprechen zu hören.      
           
  30 Die Philosophie des Aristoteles ist dagegen Arbeit. Ich betrachte      
  31 ihn aber hier nur (so wie beide vorige) als Metaphysiker, d. i. Zergliederer      
  32 aller Erkenntniß a priori in ihre Elemente, und als Vernunftkünstler sie      
  33 wieder daraus (den Kategorieen) zusammenzusetzen; dessen Bearbeitung,      
  34 soweit sie reicht, ihre Brauchbarkeit behalten hat, ob sie zwar im Fortschreiten      
  35 verunglückte, dieselben Grundsätze, die im Sinnlichen gelten,      
  36 (ohne daß er den gefährlichen Sprung, den er hier zu thun hatte, bemerkte)      
  37 auch aufs Übersinnliche auszudehnen, bis wohin seine Kategorieen nicht      
           
     

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