Kant: AA VIII, Das Ende aller ... , Seite 338 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
01 | wenn man ihn voraussetzen darf, am ersten zu erwarten ist, was der Mensch | ||||||
02 | thun werde, nicht bloß nach dem objectiven, was er thun soll: so ist | ||||||
03 | doch die Liebe, als freie Aufnahme des Willens eines Andern unter seine | ||||||
04 | Maximen, ein unentbehrliches Ergänzungsstück der Unvollkommenheit der | ||||||
05 | menschlichen Natur (zu dem, was die Vernunft durchs Gesetz vorschreibt, | ||||||
06 | genöthigt werden zu müssen): denn was Einer nicht gern thut, das thut er | ||||||
07 | so kärglich, auch wohl mit sophistischen Ausflüchten vom Gebot der Pflicht, | ||||||
08 | daß auf diese als Triebfeder ohne den Beitritt jener nicht sehr viel zu | ||||||
09 | rechnen sein möchte. | ||||||
10 | Wenn man nun, um es recht gut zu machen, zum Christenthum noch | ||||||
11 | irgend eine Autorität (wäre es auch die göttliche) hinzuthut, die Absicht | ||||||
12 | derselben mag auch noch so wohlmeinend und der Zweck auch wirklich noch | ||||||
13 | so gut sein, so ist doch die Liebenswürdigkeit desselben verschwunden: denn | ||||||
14 | es ist ein Widerspruch, jemanden zu gebieten, daß er etwas nicht allein | ||||||
15 | thue, sondern es auch gern thun solle. | ||||||
16 | Das Christenthum hat zur Absicht: Liebe zu dem Geschäft der Beobachtung | ||||||
17 | seiner Pflicht überhaupt zu befördern, und bringt sie auch hervor, | ||||||
18 | weil der Stifter desselben nicht in der Qualität eines Befehlshabers, der | ||||||
19 | seinen Gehorsam fordernden Willen, sondern in der eines Menschenfreundes | ||||||
20 | redet, der seinen Mitmenschen ihren eignen wohlverstandnen | ||||||
21 | Willen, d. i. wornach sie von selbst freiwillig handeln würden, wenn sie | ||||||
22 | sich selbst gehörig prüften, ans Herz legt. | ||||||
23 | Es ist also die liberale Denkungsart - gleichweit entfernt vom | ||||||
24 | Sklavensinn und von Bandenlosigkeit - , wovon das Christenthum für | ||||||
25 | seine Lehre Effect erwartet, durch die es die Herzen der Menschen für | ||||||
26 | sich zu gewinnen vermag, deren Verstand schon durch die Vorstellung des | ||||||
27 | Gesetzes ihrer Pflicht erleuchtet ist. Das Gefühl der Freiheit in der Wahl | ||||||
28 | des Endzwecks ist das, was ihnen die Gesetzgebung liebenswürdig macht. | ||||||
29 | - Obgleich also der Lehrer desselben auch Strafen ankündigt, so ist das | ||||||
30 | doch nicht so zu verstehen, wenigstens ist es der eigenthümlichen Beschaffenheit | ||||||
31 | des Christenthums nicht angemessen es so zu erklären, als sollten diese | ||||||
32 | die Triebfedern werden, seinen Geboten Folge zu leisten: denn sofern | ||||||
33 | würde es aufhören liebenswürdig zu sein. Sondern man darf dies nur als | ||||||
34 | liebreiche, aus dem Wohlwollen des Gesetzgebers entspringende Warnung, | ||||||
35 | sich vor dem Schaden zu hüten, welcher unvermeidlich aus der Übertretung | ||||||
36 | des Gesetzes entspringen müßte (denn: lex est res surda et inexorabilis. | ||||||
37 | livius), auslegen: weil nicht das Christenthum als freiwillig angenommene | ||||||
[ Seite 337 ] [ Seite 339 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |