Kant: AA VIII, Über den Gemeinspruch Das ... , Seite 306 |
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01 | von beiden durch die Vernunft an die Hand gegeben werden, zu schätzen: | ||||||
02 | vielmehr jenen passiven Zustand immer doch der gefahrvollen Lage noch | ||||||
03 | vorzuziehen, einen bessern zu suchen (wo dasjenige gilt, was Hippokrates | ||||||
04 | den Ärzten zu beherzigen giebt: iudicium anceps, experimentum periculosum ). | ||||||
05 | Da nun alle lange genug bestandenen Verfassungen, sie mögen | ||||||
06 | Mängel haben, welche sie wollen, hierin bei aller ihrer Verschiedenheit | ||||||
07 | einerlei Resultat geben, nämlich mit der, in welcher man ist, zufrieden zu | ||||||
08 | sein: so gilt, wenn auf das Volkswohlergehen gesehen wird, eigentlich | ||||||
09 | gar keine Theorie, sondern Alles beruht auf einer der Erfahrung folgsamen | ||||||
10 | Praxis. | ||||||
11 | Giebt es aber in der Vernunft so etwas, als sich durch das Wort | ||||||
12 | Staatsrecht ausdrücken läßt; und hat dieser Begriff für Menschen, die | ||||||
13 | im Antagonism ihrer Freiheit gegen einander stehen, verbindende Kraft, | ||||||
14 | mithin objective (praktische) Realität, ohne daß auf das Wohl= oder Übelbefinden, | ||||||
15 | das ihnen daraus entspringen mag, noch hingesehen werden darf | ||||||
16 | (wovon die Kenntniß bloß auf Erfahrung beruht): so gründet es sich auf | ||||||
17 | Principien a priori (denn, was Recht sei, kann nicht Erfahrung lehren); | ||||||
18 | und es giebt eine Theorie des Staatsrechts, ohne Einstimmung mit | ||||||
19 | welcher keine Praxis gültig ist. | ||||||
20 | Hiewider kann nun nichts aufgebracht werden als: daß, obzwar die | ||||||
21 | Menschen die Idee von ihnen zustehenden Rechten im Kopf haben, sie doch | ||||||
22 | ihrer Herzenshärtigkeit halber unfähig und unwürdig wären darnach behandelt | ||||||
23 | zu werden, und daher eine oberste bloß nach Klugheitsregeln verfahrende | ||||||
24 | Gewalt sie in Ordnung halten dürfe und müsse. Dieser Verzweifelungssprung | ||||||
25 | ( salto mortale ) ist aber von der Art, daß, wenn einmal | ||||||
26 | nicht vom Recht, sondern nur von der Gewalt die Rede ist, das Volk | ||||||
27 | auch die seinige versuchen und so alle gesetzliche Verfassung unsicher machen | ||||||
28 | dürfe. Wenn nicht etwas ist, was durch Vernunft unmittelbar Achtung | ||||||
29 | abnöthigt (wie das Menschenrecht), so sind alle Einflüsse auf die Willkür | ||||||
30 | der Menschen unvermögend, die Freiheit derselben zu bändigen; aber wenn | ||||||
31 | neben dem Wohlwollen das Recht laut spricht, dann zeigt sich die menschliche | ||||||
32 | Natur nicht so verunartet, daß seine Stimme von derselben nicht mit | ||||||
33 | Ehrerbietung angehört werde. ( Tum pietate gravem meritisque si forte | ||||||
34 | virum quem Conspexere, silent arrectisque auribus adstant. Virgil.) | ||||||
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